- Ab dem Wochenende könnten - wenn der Bundesrat zustimmt - für Geimpfte und Genesene ein Grossteil der Corona-Beschränkungen nicht mehr gelten.
- Doch wie gerecht ist diese Bevorzugung? Ein Sozialpsychologe gibt Antworten.
Endlich wieder ohne Einschränkungen mit Freunden treffen: Schon am Wochenende könnte für vollständig gegen Corona Geimpfte und für Genesene ein Stück Normalität zurückkehren. Doch ist diese Bevorzugung gerecht? Kommt darauf an, sagt Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg. "Solange die Impfpriorisierung - vor allem in den Gruppen 1 und 2 - erhalten bleibt, wird mit der Impfung ein "Versprechen von Gerechtigkeit" eingelöst". Bislang wurden unter anderem alte Menschen, Pflegebedürftige und Mitglieder bestimmter Berufsgruppen geimpft.
Impfwillige können sich im gewissen Rahmen künftig auch ohne Rücksicht auf die gültige Vorrangliste gegen Corona impfen lassen - allerdings nur, wenn sie sich mit ihrem Arzt für Astrazeneca entscheiden. Das beschlossen die Gesundheitsminister von Bund und Ländern, wie Bundesgesundheitsminister
Um welche Freiheiten geht es?
Vorgesehen ist zunächst einmal eine rechtliche Gleichstellung von vollständig Geimpften und Genesenen mit Menschen, die negativ getestet sind. Als vollständig geimpft gilt jemand ab 14 Tagen nach allen notwendigen Corona-Spritzen. Geimpfte und Genesene dürften dann auch ohne vorherigen Test in Geschäfte, Zoos oder zum Friseur gehen. Zudem sollen für sie aber auch die Kontaktbeschränkungen und Ausgangsbeschränkungen gelockert oder aufgehoben werden. Nach Reisen müssten sie nicht in Quarantäne - es sei denn, sie reisen aus einem Virusvariantengebiet ein. Die Pflicht zum Tragen einer Maske an bestimmten Orten sowie das Abstandsgebot im öffentlichen Raum sollen aber für alle weiter gelten.
Dass nun folglich bald viele Menschen in den ersten beiden Priorisierungsgruppen entlastet werden, sieht die Psychologin Eva-Lotta Brakemeier von der Uni Greifswald positiv. Viele dieser Menschen haben ein hohes Risiko für psychische Erkrankungen, sie freue sich daher darüber. Doch auch im Rest der Bevölkerung gibt es nach Aussagen der Expertin Menschen, die stark gelitten hätten. Hierzu gehören laut Brakemeier auch die Jugendlichen, vor allem im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. In diesen Gruppen, die nicht priorisiert geimpft werden, könnten die vorgeschlagenen Lockerungsmassnahmen als ungerecht wahrgenommen werden. Ob junge Menschen jedoch mit Wut reagieren, hänge viel von der Kommunikation der Regeln ab. Es dürfe keine Verwirrung entstehen, es müsse immer klar sein, was erlaubt ist und wieso, rät Brakemeier.
Wird die Impfpriorisierung aufgegeben, entsteht ein Gefühl von Ungerechtigkeit
Sollte nach dem Bundestag nun am Freitag auch der Bundesrat der Verordnung der Bundesregierung zustimmen, könnten schon am Wochenende die ersten privaten Treffen ohne sonderliche Beschränkungen unter Geimpften stattfinden. Doch was hiesse das? Man stelle sich vor, die alte Freundin, die als Pflegekraft arbeitet, lädt zu einer kleinen Feier in ihrer Wohnung ein. Als nicht Geimpfter müsste man dankend ablehnen, unter Umständen gilt sogar eine nächtliche Ausgangssperre.
Sozialpsychologe Wagner hält das zunächst für wenig problematisch: "Die Menschen, die besonders viele Einschränkungen erleiden mussten oder sich einem besonderen Risiko ausgesetzt haben, werden bevorzugt", das werde als gerecht wahrgenommen. Werde die Impfpriorisierung jedoch aufgegeben oder sei nicht mehr erkennbar, nach welcher Massgabe geimpft wird, dann entstehe ein Gefühl von Ungerechtigkeit.
Dass es für den Einzelnen schwer einschätzbar wird, welche Regeln einer Impfung zugrunde liegen, droht aus Sicht des Sozialpsychologen bereits bei der Impfung durch die Hausärzte. Mit der geplanten Impfung durch Betriebsärzte könnte das Problem sogar noch grösser werden. "Wieso wurde der Nachbar ohne ersichtlichen Grund schon geimpft, ich aber nicht?", diese nagenden Fragen könnten den Rückhalt für weiter geltende Einschränkungen schwächen.
Wie können sich Geimpfte überhaupt ausweisen?
Wagner kritisiert auch, dass es den angekündigten digitalen Impfpass noch nicht gibt. Mit ihm sollen sich vollständig Geimpfte ausweisen können. Wagner fragt sich, wie die Ordnungskräfte die neuen Regelungen ohne diesen Impfpass effektiv kontrollieren sollen. Es bestehe das Risiko, dass Geimpfte ohne entsprechenden Nachweis und Ungeimpfte, die die Einschränkungen generell ablehnen, nicht mehr unterschieden werden können. Auch das könnte der allgemeinen Akzeptanz der Corona-Schutzmassnahmen schaden.
Trotz dieser Risiken spricht auch viel für erste Erleichterungen zum jetzigen Zeitpunkt. Bereits im November 2020 warnte Eva-Lotta Brakemeier davor, dass psychische Störungen eine längere Inkubationszeit haben, es also länger dauert, bis das Problem erkannt wird. Aktuell sei bereits deutlich, dass psychische Erkrankungen zugenommen hätten. Die Expertin verwies auf Befragungen der Krankenkassen, wonach es bei Erwachsenen einen Zuwachs der Anfragen für eine psychotherapeutische Behandlung von 40 Prozent im Vergleich zu vor der Pandemie gegeben habe. Bei Kindern und Jugendlichen seien es sogar 60 Prozent. Auch aus ihrer eigenen Erfahrung kann die Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie der Uni Greifswald das bestätigen: "Vor der Pandemie haben wir pro Tag bis zu 2 Anfragen erhalten, jetzt sind es bis zu 6."
Sozialpsychologe Wagner sieht jedoch nicht alles kritisch: Er hält es für richtig, dass auch in der absehbaren Zukunft Geimpfte weiter Masken tragen und Abstand halten müssen. Es gehe darum, eine allgemeingültige Norm aufrecht zu erhalten, die auch kontrolliert werden könne.
Urlaubsreisen sind ein heikles Thema
Doch was, wenn neue Virusmutationen nach Deutschland eingeschleppt werden und Deutschland mit der Eindämmung von ganz vorn beginnen muss? "Mir auszumalen, wie die Gesellschaft reagiert, falls es wegen neuer Virus-Mutationen erneut zu einem allgemeinen Lockdown für alle kommt, übersteigt meine Vorstellungskraft", gibt Wagner offen zu. Um auch diese Herausforderung als Gesellschaft zu meistern, komme es stark auf das Vertrauen in die Entscheidungen der Regierungen an. "Hier sollte aus den Fehlentwicklungen der vergangenen Monate gelernt werden."
Ernst Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, ist der Ansicht, dass man die Beschlüsse nicht pauschal als gut oder schlecht bezeichnen kann. "Ich glaube, dass es zu Schwierigkeiten kommen kann, wenn die Lockerungen auch Urlaubspläne betreffen. Wenn die Geimpften bezüglich Auslandsreisen anders behandelt werden", der Unterschied in den Möglichkeiten von Geimpften und Ungeimpften sollte nicht zu gross werden.
Munz appelliert zudem an Politik und auch an die Epidemiologen, noch einmal klarzustellen, dass Vorsichtsmassnahmen für alle weiter erforderlich und sinnvoll sind. Sowohl Munz als auch Brakemeier plädieren zudem für das Prinzip Hoffnung. Brakemeier stimmt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu, wenn er sagt: "Wir müssen Zuversicht paaren mit Umsicht und Vorsicht." (dpa/fra) © dpa
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