Der "Lockdown light" kommt: Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder haben sich auf schärfere Massnahmen gegen die Corona-Pandemie verständigt. Gemeinsam mit CSU-Vorsitzenden Söder und Berlins Bürgermeister Müller verkündete Merkel die Beschlüsse auf einer Pressekonferenz. Erste Reaktionen auf die Beschlüsse fallen sehr unterschiedlich aus.

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

Deutschland muss wegen der weiter steigenden Corona-Infektionszahlen nach den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine "akute nationale Gesundheitnotlage" vermeiden. "Wir müssen handeln, und zwar jetzt", sagte die Kanzlerin am Mittwoch nach Beratungen mit den Ministerpräsidenten der Länder. "Die Kurve muss wieder abflachen." Man brauche jetzt im November eine befristete "nationale Kraftanstrengung", sagte Merkel und sprach von harten und belastenden Massnahmen.

Zahl der Intensivpatienten nimmt erheblich zu

75 Prozent des Infektionsgeschehens in Deutschland lasse sich nicht mehr nachverfolgen. Das Gesundheitssystem werde damit noch fertig. Aber wenn es bei dem Tempo des Infektionsgeschehens bleibe, komme man binnen Wochen an die Grenzen, sagte die Kanzlerin. Die Zahl der Menschen, die wegen Corona auf Intensivstationen behandelt würden, nehme erheblich zu. Heute sei ein schwerer Tag auch für politische Entscheider.

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hält den für November geplanten bundesweiten Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie für richtig und sachgerecht. "Das wird ein schwerer Weg, jetzt diese Beschlüsse umzusetzen", sagte er. "Wir wissen alle, was das bedeutet, was das für Zumutungen und Einschränkungen für die Menschen sind." Aber: "Wenn wir jetzt zugucken, werden wir vielen Menschen nicht helfen können", unterstrich Müller. In Berlin würden die Intensivbetten jetzt schon wieder mindestens genauso stark genutzt wie zu Beginn der Pandemie - mit stark steigender Tendenz. "Das ist nichts Abstraktes mehr." Es gehe um die Gesundheit und um Menschenleben. Deshalb sei es angemessen, in dieser Situation noch einmal diesen harten Weg zu gehen und solidarisch zu sein.

Söder: "Wir sind kein Ego-Land"

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat die Bürger zu Solidarität während der Einschränkungen im Kampf gegen die Corona-Pandemie aufgerufen. Es gehe nicht nur um die Freiheit, die der Einzelne habe, sondern auch darum, wie viel Schutz die Gemeinschaft den besonders Betroffenen biete, sagte der CSU-Chef. "Wir sind eine Solidaritätsgesellschaft und kein Ego-Land." Es gehe nicht um Loyalität zum Staat und Obrigkeitshörigkeit, sondern um ein Gemeinschaftsgefühl. Söder betonte, es sei wichtig, jetzt durchzugreifen und nicht länger abzuwarten. "Je länger wir warten, desto schwieriger wird es", sagte er. "Die Alternative nichts zu tun oder weniger zu tun, bedeutet am Ende vielleicht in die Situation zu kommen, dass wir die Entscheidung in den Krankenhäusern zu treffen haben über Leben und Tod."

Lauterbach begrüsst die neuen Massnahmen

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach bezeichnet die massiven Corona-Beschränkungen des öffentlichen Lebens als einen Sieg der Vernunft. "Die Beschlüsse von heute sind ein grosser Erfolg und ein Meilenstein gegen das Coronavirus in Deutschland", schrieb Lauterbach auf Twitter. Mit dem "Wellenbrecher Shutdown" werde man die zweite Welle der Pandemie brechen und aus dem exponentiellen Wachstum heraus kommen. Bund und Länder hätten gezeigt, "wie geschlossen in einer Notlage reagiert werden kann", schrieb der Mediziner. "Die Vernunft hat gesiegt."

SPD-Chef sieht in Anti-Corona-Beschlüssen "ermutigendes Signal"

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sieht in den Anti-Corona-Beschlüssen von Bund und Ländern ein "ermutigendes Signal". Bei früheren Beschlüssen habe es nervende Profilierungswettläufe und schwer verständliche Flickenteppich-Lösungen gegeben, sagte Walter-Borjans am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Diesmal hätten die Verantwortlichen das Zeichen gesetzt: "Gemeinsam können wir Corona besiegen." Jetzt komme es auf die Bürgerinnen und Bürger an. "Wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen, dass das Corona-Virus zurückgedrängt und ein dramatischer Gesundheitsnotstand abgewendet wird", sagte der SPD-Chef. Es lohne sich, zu Hause zu bleiben. Der Freizeit-Lockdown habe ein absehbares Ende.

Kulturbranche kritisiert neue Schliessungen

Mehrere Kulturverbände haben die geplanten Schliessungen von Kinos, Theatern oder Opern in Deutschland kritisiert. "Wir haben überhaupt kein Verständnis mehr für das ständige Auf und Ab der ergriffenen Massnahmen", teilte der Hauptverband Deutscher Filmtheater (HDF Kino) mit. Seit Monaten arbeiteten die Kinos mit detaillierten Sicherheitskonzepten, grossen Räumen, modernen Belüftungsanlagen und einer geringeren Auslastung.

Kinos übernähmen eine grosse Verantwortung für ihre Besucher, dennoch nütze ihnen das nichts. "Wir sind fassungslos", teilte HDF-Vorstand Christine Berg mit. Auch der Programmkinoverband sprach von einer "schmerzlichen" Entscheidung. "Was uns traurig macht: Dass man sich nicht durchgerungen hat, bei der Kultur eine differenzierte Sichtweise zu finden", sagte Christian Bräuer von der AG Kino.

Gewerkschaft fordert mehr Schutz für Lehrer

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert nach dem Bund-Länder-Beschluss zur Offenhaltung von Schulen und Kitas einen besseren Schutz der Beschäftigten. Ein "Weiter so" dürfe es nicht geben, hiess es am Mittwochabend in einer Mitteilung der Gewerkschaft. "Wenn offene Schulen und Kitas höchste Priorität aus sozialen Gründen haben sollen, müssen Lehrkräfte und Erzieherinnen besonders geschützt werden."

"Die GEW schlägt vor, dem Rat des Robert Koch-Instituts zu folgen und in der Schule in kleineren Gruppen zu unterrichten", sagte die Gewerkschaftsvorsitzende Marlis Tepe. Sie forderte einen Wechsel von Präsenz- und Fernunterricht ab der fünften Klasse, wenn der sogenannte Inzidenzwert die Marke von 50 erreicht. Zusätzlich müsse gesichert sein, dass in den Klassenzimmern regelmässig und konsequent gelüftet werde. "Räume, in denen Lüften nur eingeschränkt möglich ist, müssen umgehend mit wirksamen Luftfiltern ausgestattet werden." Tepe sprach sich dafür aus, die Grundschulen so lange wie möglich geöffnet zu lassen.

Wirtschaftsverbände kritisieren Corona-Beschlüsse

Wirtschaftsverbände haben die von Bund und Ländern beschlossenen massiven Beschränkungen im Kampf gegen die Corona-Krise kritisiert. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer erklärte am Mittwoch: "Es ist gut, dass Bund und Länder einen pauschalen Wirtschafts-Lockdown erkennbar vermeiden wollten, gleichwohl ist das nicht durchgängig gelungen und ein harter und bitterer Tag für viele Handwerksbetriebe."

Die grossen Anstrengungen und Investitionen vieler Betriebe in den vergangenen Monaten, mit ausgeklügelten Hygienekonzepten Kunden und Mitarbeiter zu schützen, hätten mehr Anerkennung verdient. "Manche Handwerksbereiche sind teils unmittelbar, teils mittelbar von den nun anstehenden Schliessungen substanziell betroffen."

AfD lehnt Corona-Regeln ab - Gauland spricht von "Kriegskabinett"

Mit Ablehnung und Empörung hat die AfD auf die von Bund und Ländern beschlossenen neuen Corona-Einschränkungen reagiert. "Es ist alles völlig überzogen", sagte die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Alice Weidel, am Mittwoch in Berlin. "Wir müssen lernen mit Corona zu leben", fügte sie hinzu.

Der Co-Vorsitzende Alexander Gauland kritisierte, dass erneut weitreichende Kontaktbeschränkungen und die Schliessung von Gastronomiebetrieben von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gemeinsam mit den Ministerpräsidenten vereinbart wurden. "Wir haben inzwischen eine Art Kriegskabinett", sagte Gauland. Er habe das Gefühl, der Bundestag sei nur noch dazu da, um "das gefälligst abzunicken". (dpa/fra)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.

Teaserbild: © Fabrizio Bensch/Reuters Pool/dpa