• Weltweit gehen Menschen gegen die Corona-Impfung auf die Strasse. Teilweise eskalieren die Proteste und münden in Gewalt.
  • Woher kommt der Hass gegen Wissenschaft und Medizin? Und wer sind die Demonstrierenden, die sich auch gegen Krankenhaus- und Impfpersonal richten?
  • Diese Fragen beantwortet die Psychologin Pia Lamberty, Geschäftsführerin bei CeMAS, dem Center für Monitoring, Analyse und Strategie.

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Die Suche nach Impfstoffen war seit Beginn der Pandemie ein steter Hoffnungsschimmer für viele Menschen. Die Zulassung verschiedener Vakzine versprach, die Lage zu verbessern und die Rückkehr in ein normales Leben zu ermöglichen. Dazu bedarf es nun einer möglichst hohen Impfquote in der Bevölkerung.

Was für die einen der Hoffnungsschimmer am Horizont, ist für eine Minderheit der Bevölkerung offenbar undenkbar. So gehen weltweit Menschen gegen die Impfungen auf die Strasse. Die Proteste arten mitunter in gewaltsame Eskalation aus und der Hass gegen Wissenschaft, Medizin, Krankenhaus- und Impfpersonal wird offen ausgelebt.

Gewaltsame Proteste von Impfgegnern auf der ganzen Welt

So schockierten zuletzt Bilder aus Polen, als Impfgegner eine Impfstation angriffen. Darüber hinaus erfolgten dort zuletzt zwei Brandanschläge auf Impfzentren. Auch in Frankreich kam es zu Gewalt und grossen Protesten – ebenso beispielsweise in Grossbritannien und in Italien. In London wollten Impfgegner gar die Zentrale des Fernsehsenders BBC stürmen – standen aber vor dem falschen Gebäude.

Woher rührt der teils blank zur Schau gestellte Hass der Demonstrierenden? Die Psychologin Pia Lamberty erklärt dazu im Gespräch mit unserer Redaktion: "Medizinische Verschwörungserzählungen haben leider eine lange Geschichte." Man finde solche Mythen bereits im Mittelalter bei der Pest-Pandemie.

Psychologin Lamberty erklärt medizinische Verschwörungserzählungen

Es sei typisch, dass Ärzte, Wissenschaftler, aber auch Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen als Teil der Verschwörung dargestellt werden: "Aus psychologischer Sicht ist der Verschwörungsglaube ein Vorurteil gegenüber all denjenigen, die als mächtig dargestellt werden. Dazu zählen dann oft auch Menschen aus dem Gesundheitsbereich. Die tatsächliche Macht wird dabei von Verschwörungsgläubigen vielfach verzerrt und überschätzt", sagt die Psychologin.

Betrachtet man die Proteste von Impfgegnern, fällt dabei auf, dass neben Esoterikern, Reichsbürgern und Neo-Nazis auch viele durchschnittliche Bürgerinnen und Bürger laufen. Die Expertin Lamberty erklärt dazu: "Der Verschwörungsglaube zieht sich erst einmal durch die gesamte Gesellschaft. Das kann der Mitarbeiter aus dem Blumenladen sein, genauso wie die Professorin oder der Arzt. Und das ist keine kleine Gruppe in der Gesellschaft."

Expertin: Darum glauben Menschen Verschwörungserzählungen

Lamberty bezieht sich hierbei auf die Ergebnisse einer jüngsten Studie von COSMO, laut der 22 Prozent glaubten, die Pandemie sei ein Schwindel, wobei 19 Prozent meinten, sie sei menschengemacht. Doch offensichtlich glaubt nicht jeder Mensch an die derzeit grassierenden Verschwörungserzählungen. Pia Lamberty erklärt dazu, dass es verschiedene Faktoren gibt, die den Verschwörungsglauben begünstigen.

"Menschen mit niedriger formaler Bildung glauben eher an Verschwörungen. Dies ist aber nicht auf eine vermeintlich niedrigere Intelligenz oder den Wissensstand zurückzuführen, sondern auf das subjektive Gefühl, nicht Teil der Gesellschaft zu sein." Dieses Gefühl könnte auch die Nicht-Bereitschaft zur Impfung erklären. Diese wird vor dem Hintergrund der hohen Ansteckungsgefahr durch die Delta-Variante die Öffentlichkeit noch weiter in Atem halten.

New York erlässt Impfpflicht für Aktivitäten im öffentlichen Raum

Die USA wollen der Delta-Variante zuvorkommen und ihrer Impfkampagne neuen Schub verleihen. In New York greift Bürgermeister de Blasio zu einer drastischen Massnahme: Er nimmt Ungeimpften den "Schlüssel" zu Restaurants, Fitnessstudios und anderen Einrichtungen weg.

Impfquoten noch deutlich zu niedrig

In Deutschland sind laut Impfdashboard der Bundesregierung und laut Robert-Koch-Institut mittlerweile 58,8 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft, 63,9 Prozent (Stand 21. August, 09:50 Uhr; Anm. d. Red.) haben mindestens eine Impfdosis erhalten.

Ähnlich mau sieht es in Österreich und der Schweiz aus. Laut österreichischem Gesundheitsministerium haben bisher 57,35 Prozent der Bevölkerung einen vollen Impfschutz, 60,91 Prozent sind mindestens einmal geimpft (Datenstand: 22. August, 23:59 Uhr). Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit weist eine Quote von 56,18 Prozent Erstgeimpften aus, 50,55 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft (Stand 20. August).

Expertinnen und Experten gehen jedoch davon aus, dass es eine Impfquote von 80 bis 85 Prozent braucht, um das Coronavirus wirklich einzudämmen. In den kommenden Wochen müssten also auch noch skeptische Menschen überzeugt werden. Historisch gesehen stand Impfen für Freiheit, also genau den Wert, den die Impfgegner für sich beanspruchen.

Bevor 1798 der britische Landarzt Edward Jenner den Grundstein für Impfungen legte, waren Tausende Menschen an Pocken gestorben. Sich in Freiheit und Sicherheit zu bewegen, war erst durch Impfungen wieder möglich geworden.

Es müssen also noch mehr Menschen überzeugt werden – oder, wie in den USA, durch positiven Anreiz, wie auch der Psychologe Peter Kirsch im Interview mit dem SWR meint: "Positive Anreize, also Menschen zu belohnen, wenn sie sich impfen lassen, sind im Moment die vielversprechendsten Ansätze."

Expertin Lamberty: Vermischung verschiedener Szenen

Die Frage, wer überhaupt noch überzeugt werden kann, ist aber offen. Bei den Protesten gegen die Corona-Massnahmen und gegen die Impfungen scheint sich die Zusammensetzung wie bei anderen verschwörungsideologischen Protesten durch die Vermischung verschiedener Szenen auszuzeichnen. "Das konnte man bereits bei den sogenannten Mahnwachen für den Frieden sehen und das prägte auch die Proteste während der Pandemie – insbesondere zu Beginn", sagt Pia Lamberty.

Mit einer Diagnose von aussen solle man allerdings vorsichtig sein: "Ich würde davor warnen, vom Äusseren auf die politische Gesinnung zu schliessen. Es gibt durchaus auch in der Esoterik Vermischungen mit rechtsextremen Strömungen." Diese Vermischung liess sich in Deutschland vor allem an der Querdenken-Bewegung um den Begründer Michael Ballweg ausmachen.

Viele Querverbindungen: Querdenken und die rechtsextreme Szene

"Bei den Protesten und dem Aufbau der digitalen Netzwerke waren von Anfang an immer wieder Bezüge zu rechtsextremen Strömungen", erklärt Lamberty. "Michael Ballweg gab beispielsweise dem vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuften 'Compact Magazin' ein Interview, es gibt immer wieder auch Berichte zu Bezügen ins Reichsbürger-Milieu."

Darüber hinaus bestünden Verbindungen zu Holocaust-Leugnern. Viele Telegram-Gruppen, über die sich die Querdenker organisieren, seien durch einen bekannten Rechtsextremisten aufgebaut worden.

Diese Art von "auf den fahrenden Zug aufspringen", also das Nutzen von Corona als Möglichkeitsfenster, um die eigene Anschlussfähigkeit zu steigern, ist dabei ganz typisch: "Nazis und Rechtsextreme versuchen Krisen- und Katastrophensituationen immer wieder für sich zu nutzen. Das konnte man auch während der Unwetterkatastrophe sehen. Ziel ist es, die eigenen Themen mehr in der Gesellschaft zu platzieren und die eigene Reichweite zu erhöhen", erklärt die Psychologin.

In der Pandemie sind neue Netzwerke entstanden

In Österreich greift die 3G-Regel schon länger, in Deutschland wurde sie jüngst beschlossen. Wenn bestimmte Freiheiten nur für Geimpfte, Getestete und Genesene gewährt werden, könnten die Proteste der Corona-Leugner und Impfgegner erneut an Fahrt aufnehmen. Wenn der Weg ins gesellschaftliche Leben über Tests führt, die in Zukunft aber nicht mehr finanziert werden, bleibt letztlich nur die Impfung. Das könnte zu neuerlichen Verwerfungen führen.

"Auch wenn in den letzten Monaten die Mobilisierung durch Querdenken nicht mehr so erfolgreich war, halte ich es für zu früh, nun ein Ende auszurufen", meint auch Pia Lamberty. "In der Pandemie sind Netzwerke entstanden, die bei gesellschaftlichen Krisen immer wieder reaktiviert werden können. Sei es, falls es im Zuge steigender Zahlen wieder zu einschränkenden Massnahmen kommen sollte, oder eben beim Thema Klimawandel."

Über die Expertin: Pia Lamberty ist Psychologin und forscht zu Verschwörungsideologien. Seit November 2016 ist sie externe Doktorandin am Lehrstuhl für Sozial- und Rechtspsychologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ausserdem ist sie Geschäftsführerin des CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie, das sich mit Verschwörungsideologien, Desinformation und Rechtsextremismus beschäftigt. Zuletzt erschien gemeinsam mit Katharina Nocun das Buch "True Facts – Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft"

Verwendete Quellen:

  • bpb.de: Zur Geschichte der Schutzimpfung
  • faz.net: Impfgegner machen mobil
  • impfdashboard.de: Aktueller Impfstatus
  • projekte.uni-erfurt.de: Verschwörungsdenken
  • rnd.de: Impfgegner wollen britische BBC-Zentrale stürmen – und marschieren zum falschen Gebäude
  • swr.de: Psychologe: "Hartnäckige Impfgegner erreicht man nicht"
  • tagesschau.de: Proteste gegen Corona-Massnahmen
  • twitter.de: @jimstewartson
  • twitter.de: @kapturak
  • twitter.de: @sbattrawden
  • wienerzeitung.at: Polen verschärft nach Attacken die Sicherheit für Impfzentren
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