In der Coronakrise ist die Bandbreite der Meinungen nicht nur in der Bevölkerung gross, auch in der Wissenschaft scheiden sich die Geister. Eines scheint jedoch allen Seiten klar zu sein: Mit dem am Montag startenden Lockdown allein lässt sich die Gefahr auf keinen Fall bannen.
Spanien ist in Alarmbereitschaft, Österreich und die Schweiz zögern noch, Tschechien, Frankreich und Deutschland haben sich schon entschieden: Immer mehr europäische Länder versuchen, die zweite Infektionswelle mit einem Lockdown zu brechen.
In Deutschland sind ab Montag Restaurants, Bars und Cafés für vier Wochen dicht, auch Freizeiteinrichtungen, Massagepraxen und Tattooo-Studios müssen wieder schliessen.
Vier Wochen Stillstand, um das Schlimmste abzufedern.
Der Ärger über die Massnahmen ist nicht nur bei Künstlerinnen und Gastronomen gross. Auch unter Fachleuten regt sich Widerstand.
Am Mittwochvormittag - wenige Stunden vor Verkündung des neuerlichen Lockdowns - hatten Ärzte und Wissenschaftler einen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung gefordert. Man solle statt Verboten stärker auf Gebote setzen, heisst in dem am Donnerstag veröffentlichten dazugehörigen Positionspapier, das Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gemeinsam mit den Virologen
KBV-Vorstandschef: "Können nicht den ganzen Kontinent in künstliches Koma versetzen"
"Wir nehmen die Pandemie sehr ernst. Uns geht es um eine realistische medizinische Einschätzung von Chancen und Risiken, denn wir werden das Virus so schnell nicht eliminieren können", sagte KVB-Vorstandschef Andreas Gassen bei der Vorstellung des Papiers.
Aber: "Wir können nicht das ganze Land, gar einen Kontinent Wochen und Monate in ein künstliches Koma versetzen" und damit bleibende Schäden verursachen. Es brauche stattdessen eine "gesunde Balance aus Einschränkungen und wissenschaftlich begründbaren Massnahmen", sagte Gassen.
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Gelingen soll das nach Ansicht der Experten mit drei Säulen: einem besseren Schutz der Angehörigen von Risikogruppen, mehr Eigenverantwortung und einem bundeseinheitliches Ampelsystem.
Menschen mit höherem Krankheitsrisiko sollten etwa mit FFP2-Masken geschützt werden. Zudem plädieren die Wissenschaftler für den Einsatz von Antigen-Schnelltests - etwa in Seniorenheimen oder Krankenhäusern. Teilweise kommen solche Tests in Deutschland bereits zum Einsatz.
Man wolle Verbote und Bevormundung vermeiden, heisst es in dem Positionspapier. Gerade die Nachverfolgung von Kontaktpersonen könne besser und effektiver über Eigenverantwortung erfolgen. "Zusätzlich zur Corona-Warn-App können die Menschen eigene Mitteilungen an ihre Kontaktpersonen schneller und zielgerichteter senden und die Gesundheitsämter entlasten."
Zwar sprechen sich auch sie ausdrücklich für eine Einhaltung der AHA+L+A-Regeln aus - Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmaske tragen, regelmässig lüften, App nutzen -, eine Reduktion von Kontakten ist in dem Vorschlag aber nicht vorgesehen.
Die KBV-Vertreter, Streeck und Schmidt-Chanasit, wollen ihre Vorschläge als Diskussionsgrundlage verstanden wissen. "Wir haben auch keine endgültige Lösung", gibt Schmidt-Chanasit zu, "aber es gibt sicherlich Alternativen zum Lockdown".
Leopoldina will Kontaktnachverfolgung gewährleisten
Wie tief gespalten auch die hellsten Köpfe der Wissenschaft in Sachen Lockdown sind, zeigt eine zweite gemeinsame Erklärung - von Vertretern der Deutschen Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina, Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und drei weiteren Forschungsgemeinschaften. Dass es allein mit Appellen an die Bevölkerung nicht getan sein wird, davon sind sie überzeugt. Sie fordern eine drastische Reduktion von sozialen Kontakten.
Notwendig sei eine Verringerung der "Kontakte ohne Vorsichtsmassnahmen" auf ein Viertel. Gemeint sind damit alle Kontakte, bei denen die AHA+L+A-Regeln nicht eingehalten werden.
Ziel sei es, die Fallzahlen so weit zu senken, dass die Nachverfolgung von Kontakten über die Gesundheitsämter wieder möglich sei. Die Leopoldina hatte bereits Mitte Oktober davor gewarnt, die derzeitigen Massnahmen reichten dafür nicht aus.
Virologe Streeck: Es wird ein Marathon
Nur auf die Infektionszahlen zu schauen, sei zu wenig, betont der Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, Hendrik Streeck. Die Fallzahlen niedrig zu halten, bis ein Impfstoff gefunden ist, ist für ihn keine Option. Es sei "ein Irrglaube", dass mit einem Impfstoff das Virus besiegt sei. "Wir müssen uns auf diesen Marathon vorbereiten".
Derselben Ansicht ist der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut: "Es wird längere Zeit dauern, bis wir durch die Impfung eine spürbare Veränderung des Infektionsgeschehens sehen werden, dass wir sagen können, jetzt kann wieder Ruhe einkehren", sagte der Virologe Thomas Mertens den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Er geht davon aus, dass eine Impfung der gesamten Bevölkerung gegen SARS-CoV-2 bis Ende 2021 auch dann nicht möglich ist, wenn schnell ein Impfstoff gefunden wird. Mertens rechnet vor: Wenn man pro Tag 100.000 Menschen impfen würde, bräuchte man 150 Tage, um 15 Millionen Menschen zu impfen - und hätte gerade mal ein Fünftel der deutschen Bevölkerung immunisiert.
In einem sind sich die Experten einig: Verhalten der Menschen ist der Schlüssel
Wie man es dreht und wendet: Es wird dauern, bis die Pandemie nicht mehr unseren Alltag bestimmt. Virologe Martin Stürmer hält die vier Wochen Stillstand für eine sinnvolle Idee. Der "Lockdown light" werde aber nur dann das erwünschte Ergebnis bringen, wenn sich danach das Verhalten der Menschen ändert. "Es steht und fällt damit, dass sich die Menschen bewusst sind, dass es ohne ihr Mitwirken nicht funktioniert", sagte er der dpa.
Kontakte einzuschränken ist nach Stürmers Ansicht nur der erste Schritt. Auch nach November müssten die Menschen wieder darauf achten, Abstand zu halten, ausreichend zu lüften und ihre Alltagsmasken zu tragen.
"Sonst führt das in eine Endlosschleife", betont er. Die Entwicklung der jüngsten Zahlen habe gezeigt: "Die Menschen sind zu leichtsinnig geworden."
Eine Option auf normale Weihnachten sieht der Virologe indes nicht. "Das wäre wieder kontraproduktiv." Mit Hilfe der Massnahmen sei es aber möglich, ein "etwas normaleres Weihnachten" zu feiern als unter massiven Kontaktbeschränkungen - "zwar nicht wie vor Corona, aber nicht nur mit der Familie und sonst gar nichts".
Verwendete Quellen
- Kbv.de: Ärzte und Wissenschaftler werben für Strategiewechsel in Pandemiebekämpfung
- Leopoldina.org: Wissenschaftsorganisationen zur Coronavirus-Pandemie: Die Situation ist ernst
- Bloomberg.com: Europe Returns to Lockdowns With No Guarantee They’ll Work
- dpa
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