Auf einem Hof in der oberbayerischen Einöde werden am 4. April 1922 sechs Leichen entdeckt. Vater, Mutter, Tochter, deren zwei kleine Kinder sowie die Magd – alle ermordet. Auch mehr als 100 Jahre später ist der Täter nicht ermittelt. Der Sechsfachmord von Hinterkaifeck ist eines der grössten ungelöstes Mysterien der deutschen Kriminalgeschichte.
Es ist ein langer, kalter Winter, den die Menschen in Bayern im Jahr 1922 ertragen müssen. Bis in den April hinein sind die Temperaturen niedrig, die Schneedecke hoch. Das ohnehin harte Leben wird somit auch für die Bewohner des Hofes Hinterkaifeck zusätzlich erschwert. Die Bewohner, das sind Andreas Gruber (63) mit seiner Frau Cäzilia (72), die gemeinsame verwitwete Tochter Viktoria Gabriel (35), deren sieben Jahre alte Tochter Cäzilia – genannt Cilli – sowie Viktorias zweieinhalb Jahre alter Sohn Josef. Wer der Vater des kleinen Josefs ist, ist unklar.
Dunkle Familiengeheimnisse auf dem Einödhof Hinterkaifeck
Infrage kommt Andreas Gruber, der seine Tochter Viktoria seit jungen Jahren missbrauchen soll. Er wird im Mai 1915 wegen Inzest zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, auch Viktoria muss für einen Monat hinter Gitter.
Lorenz Schlittenbauer ist der andere potenzielle Vater. Er ist ein Nachbar der Familie und bewirtschaftet einen Hof in Gröbern, der etwa 500 Meter von Hinterkaifeck entfernt liegt. Kurz nachdem seine Frau im Juli 1918 an Brustkrebs verstirbt, geht der Ortsvorsteher eine sexuelle Beziehung mit Viktoria ein, die Ende des Jahres schwanger wird.
Es kommt zu Streitigkeiten: Schlittenbauer erstattet Anzeige gegen Andreas Gruber und Viktoria Gabriel wegen Inzests. Diese nimmt er auf Viktorias Bitten zwei Wochen später zurück und erkennt überraschend die Vaterschaft des kleinen Josef an, erneuert die Anzeige aber dann nach weiteren zwei Wochen unter Eid. Später soll er die Absicht haben, Viktoria zu heiraten, doch Andreas Gruber lehnt dies strikt ab.
Diese prekären familiären und nachbarschaftlichen Verhältnisse auf Hinterkaifeck führen dazu, dass Lorenz Schlittenbauer bis heute als einer der Hauptverdächtigen für den Sechsfachmord gilt – doch der Reihe nach.
Unheimliches Treiben auf dem Hof
Kurz vor den schrecklichen Ereignissen am 31. März 1922 macht Andreas Gruber seltsame Entdeckungen auf dem Hof: Das Schloss des Motorenhäuschens wurde aufgebrochen, er findet Spuren eines versuchten Einbruchs an der Tür zur Futterkammer und entdeckt fremde Fussspuren im Schnee, die zum Hof führen – aber nicht wieder von diesem weg. Ausserdem findet Gruber eine Ausgabe der Münchner Zeitung, die nach Aussage des Postboten niemand in der Umgebung bezieht. Polizeiliche Hilfe nimmt die Familie nicht in Anspruch, doch Gruber teilt seine Beobachtungen mit seinem Nachbarn Lorenz Schlittenbauer, mit dem er sich ausgesöhnt hat, und dem Landwirt Kaspar Stegmeier aus Gröbern.
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Am Tag des Sechsfachmordes machen sich Andreas Gruber und seine Tochter Viktoria vormittags auf den Weg nach Schrobenhausen, um einzukaufen. Angeblich berichten beide in verschiedenen Geschäften von weiteren unerklärlichen Ereignissen auf dem Hof, wie nächtlichen Geräuschen auf dem Dachboden und einem losgebundenen Rind.
Nach ihrer Heimkehr treffen sie ein neues Hofmitglied an: Die Magd Maria Baumgartner erscheint an ihrer neuen Dienststelle. Sie wird begleitet von ihrer Schwester Franziska Schäfer. Sie ist diejenige, die die Bewohner des Hofes – neben dem Mörder – ein letztes Mal lebend sieht.
Täter erschlägt Opfer mit einer Reuthaue
Was sich danach, vermutlich im Zeitraum zwischen 19 Uhr und 21 Uhr genau zuträgt, wird wohl nie endgültig geklärt werden. Allem Anschein nach werden zunächst Viktoria, dann Cäzilia, Andreas und schliesslich die kleine Cilli in der Hofscheune mit einer Reuthaue durch Schläge auf den Kopf getötet. Danach begibt sich der Mörder mit dem landwirtschaftlichen Gerät ins Magdzimmer und tötet die kurz zuvor eingetroffene Maria Baumgartner auf die gleiche Weise. Auch der erst zweieinhalbjährige Josef, der sich in Viktorias Zimmer befindet, wird mit einem Schlag auf den Kopf ermordet. Die siebenjährige Cilli überlebt den schweren Angriff zunächst, verstirbt aber noch am späten Abend.
In den folgenden Tagen erscheinen mehrere Personen auf dem Hof, doch die Leichen bleiben zunächst unentdeckt. Am 4. April kommt der Monteur Albert Hofner auf das Anwesen, um wie vereinbart einen Motor zu reparieren. Da er keinen der Hausbewohner antrifft und unter Zeitdruck steht, verschafft er sich Zugang zur Motorenhütte und beginnt mit seiner Arbeit. Merkwürdig ist, dass er das Bellen des Hofhundes zunächst aus dem Inneren des Hauses wahrnimmt, den Hund jedoch beim Verlassen angebunden vor der Haustür findet. Ist der Mörder zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Hof?
Weitere Berichte unterstützen diese Vermutung: In den Tagen zwischen den Morden und der Entdeckung der Leichen soll Rauch aus dem Kamin aufgestiegen und das Vieh versorgt worden sein. Zudem ist der gesamte Brotvorrat aufgebraucht und das Fleisch in der Vorratskammer frisch angeschnitten.
Auf seinem Rückweg informiert der Monteur zwei Töchter von Lorenz Schlittenbauer, dass er seine Arbeit erledigt hat, jedoch niemanden auf dem Hof antreffen konnte. Daraufhin schickt Schlittenbauer seine beiden minderjährigen Söhne nach Hinterkaifeck, doch auch sie finden dort kein Familienmitglied vor.
Die Leichen werden entdeckt
Schlittenbauer beschliesst, selbst nach dem Rechten zu sehen, und wird von seinen Nachbarn Michael Pöll und Jakob Sigl sowie seinen Söhnen begleitet. Im Stadel machen Schlittenbauer, Pöll und Sigl die erste grausame Entdeckung: Dort liegen die vier Leichen von Andreas und Cäzilia Gruber sowie Viktoria und Cilli Gabriel übereinandergestapelt und teilweise mit Heu bedeckt. Schlittenbauer geht allein durch den Stall und öffnet anschliessend mit einem zuvor als vermisst geltenden Hausschlüssel die Tür, um die anderen hereinzulassen. Dort finden sie die Leichen der Magd Maria Baumgartner und des kleinen Josef.
Die Tatsache, dass der Täter bis heute nicht ermittelt werden konnte, liegt auch an den Ereignissen der folgenden Stunden. Während Pöll, Sigl und einer der Söhne Schlittenbauers den Hof verlassen, wartet Lorenz Schlittenbauer auf die Polizei. Er schickt demnach seinen zweiten Sohn zum Bürgermeister nach Wangen, um die Beamten zu verständigen. Auf dem zwei Kilometer langen Weg erzählt der Junge den Menschen, die er trifft, von dem Verbrechen. Dutzende Schaulustige begeben sich daraufhin nach Hinterkaifeck. Noch bevor die ersten Polizisten eintreffen, haben sich bereits unzählige Personen am Tatort versammelt und verwischen damit mögliche Spuren.
Die ebenfalls verständigte Kriminalpolizei aus München trifft erst am frühen Morgen des Folgetages ein und beginnt mit den ersten Vernehmungen. Wegen Schneefalls und Regens können die Polizeihunde keine Spur aufnehmen. Fingerabdrücke werden nicht gesichert.
Die Tatwaffe, eine blutverschmierte Reuthaue, wird erst 1923 beim Abriss des Hofes unter den Dielenbrettern des Dachbodens entdeckt. Bis zu diesem Zeitpunkt gehen die Ermittler davon aus, dass eine am Ende des Futtertrogs gefundene Kreuzhacke die Tatwaffe ist. Unklar bleibt, wie viele Täter und wie viele Tatwaffen es tatsächlich gegeben hat.
Trotz intensiver Ermittlungen, bei denen sogar Hellseherinnen zurate gezogen werden, gelingt es der Polizei nicht, einen Täter zu überführen. Dutzende Personen geraten unter Verdacht, darunter auch Viktorias im Krieg gefallener Ehemann.
Täuschte Viktorias Ehemann seinen Tod nur vor?
Karl Gabriel heiratet Viktoria Gruber im April 1914. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr der Einödhof bereits überschrieben worden. Es scheint eher eine Vernunftehe als eine Liebesverbindung zu sein. Viktoria wird zuvor die eine oder anderen Liebelei nachgesagt, mit der Ehe will sie offenbar ein respektables Bild nach aussen vermitteln. Karl Gabriel zieht auf Hinterkaifeck ein, wird aber angeblich von der gesamten Familie schlecht behandelt, weshalb er, so heisst es, zurück zu seinen Eltern nach Laag zieht. Diese sollen ihn kurz darauf wieder nach Hinterkaifeck schicken.
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Viktoria ist zu diesem Zeitpunkt bereits von Karl schwanger, im Januar 1915 wird ihre Tochter Cäzilia geboren. Doch Karl erlebt Cillis Geburt nicht: Er fällt im Dezember 1914 im Ersten Weltkrieg in Frankreich – oder etwa nicht? Angeblich, so eine Theorie, täuscht Gabriel seinen Tod vor, kehrt nach Hinterkaifeck zurück und tötet die Familie, die ihn so schlecht behandelt hat. Eine andere Theorie: Gabriel stirbt in Frankreich, doch erzählt zuvor seinen Kameraden, die später die Morde verüben, vom offenbar beträchtlichen Vermögen der Familie.
Im Zusammenhang mit dem Verbrechen geraten auch andere Personen ins Visier der Ermittler: ein angeblich geisteskranker Bäcker, Kriminelle sowie ehemalige Knechte und Hilfsarbeiter des Hofes. Doch stichhaltige Beweise, die eine Schuld eindeutig belegen könnten, gibt es nicht.
Viele Gerüchte, viele Theorien
Oder ist alles vielleicht ganz anders – ein Fünf- statt eines Sechsfachmords? Eine Theorie besagt, dass Andreas Gruber, der ein Tyrann gewesen sein soll, seine Familie und Maria Baumgartner umbringt. Und er dann in einem Akt der Selbstjustiz von einem Bewohner der verschworenen Ortsgemeinschaft getötet wird.
Und welche Rolle spielt die Magd Maria Baumgartner? Ist es nur Zufall, dass die Morde wenige Stunden nach ihrer Ankunft verübt werden?
Möglicherweise ist die Tat auch politisch motiviert. Die junge Weimarer Republik ist nach dem Ende des Ersten Weltkriegs instabil, und der Friedensvertrag von Versailles sieht unter anderem die Demilitarisierung des Landes vor. Viele Bürger sind nicht bereit, diese Demütigung hinzunehmen. Gerüchten zufolge wird Hinterkaifeck als Waffenversteck genutzt. Könnte es zum Sechsfachmord gekommen sein, weil die Reichswehr die Geschäftsbeziehungen zu Andreas Gruber, der selbst Mitglied einer Bürgerwehr ist, beenden will?
Schlittenbauer macht sich tatverdächtig
Oder ist der sich mehrfach verdächtig verhaltende Lorenz Schlittenbauer der Täter? Auf die Frage nach seinem Alibi erklärt er, dass er am Abend der Tat bei seiner Frau Anna, die er im Mai 1921 heiratet, gewesen ist. Diese wiederum berichtet, dass sich ihr Ehemann am Tatabend auf Heuwache befand. Im April 1925 verhält sich Schlittenbauer auffällig, als der Lehrer Hans Yblagger ihn an der Ruine von Hinterkaifeck antrifft. Schlittenbauer erzählt ihm, dass in der Nähe des Leichenfundorts angeblich versucht worden sei, ein oder zwei Löcher zu graben, um die leblosen Körper eventuell darin zu vergraben. Von diesem Vorfall war zuvor nie die Rede.
Die langjährige, komplexe Beziehung zur Familie Gruber, das Hin und Her um die Vaterschaftsanerkennung des kleinen Josef, die Tatsache, dass er die Toten als Erster entdeckt und dass der Täter die Räumlichkeiten des Hofes kennen muss – was Schlittenbauer zweifellos tut – machen ihn verdächtig. Zudem war er im Besitz des Hausschlüssels, bewegt sich noch vor Eintreffen der Polizei auf dem Hof und versorgt das Vieh.
Auch soll er zu Protokoll gegeben haben, dass die Reuthaue einst in seinem Besitz war – möglicherweise, um Fingerabdrücke zu erklären. Es gibt viele Indizien, die auf ihn als Täter hindeuten. Doch es gibt auch Gegenargumente: Warum sollte der neu verheiratete Schlittenbauer die Morde erst mehr als zwei Jahre nach dem Beziehungswirrwarr mit Viktoria verüben? Und warum würde er den zweieinhalbjährigen Josef töten, dessen Vater er ist oder zumindest sein könnte?
Theorien, Spekulationen, Gerüchte – bis heute fehlt der handfeste Beweis, wer die sechs Bewohner des Hofes ermordet hat. Anklagen gab es nie. Der Fall Hinterkaifeck ist ein Mysterium und wird dies wohl auch immer bleiben.
Verwendete Quellen
- antenne.de: Dunkle Heimat
- hinterkaifeck.net: Der Mythos Hinterkaifeck
- youtube.com: 100 Jahre Hinterkaifeck
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