Im April 1995 verschwindet die 19-jährige Sonja Engelbrecht mitten in München. Jahrzehntelang gibt es keine Spur von ihr – bis 2020 ein Knochen gefunden wird. Die Geschichte über einen der berühmtesten Cold-Case-Fälle der bayerischen Landeshauptstadt.
Am 10. April 1995, einem Montag, herrscht in München scheussliches Wetter. Der Himmel ist bewölkt, ein frischer Wind treibt Schneeregen durch die Strassen – kein Wetter, bei dem man gerne vor die Tür geht.
Die damals 19-jährige Sonja Engelbrecht entscheidet sich dennoch dazu, am Abend mit einem ehemaligen Schulfreund auszugehen. Sonja ist oft und gerne mit ihren Freunden im Münchner Nachtleben unterwegs. Normalerweise nur an den Wochenenden, denn die 19-Jährige besucht noch die Wirtschafts-Fachoberschule. Doch an jenem Montag sind gerade Osterferien.
In ihrem Zimmer, das mit Postern von "The Cure" dekoriert ist, macht sich Sonja für den Abend bereit. Die Schülerin mit den langen, blonden Haaren und dem Nasenpiercing zieht ihre schwarze Lederhose und ihre neue Lederjacke an, die sie erst wenige Tagen zuvor zu ihrem 19. Geburtstag geschenkt bekommen hat. Zum Schluss legt sie sich noch eine silberne Kette mit Amulett um den Hals – so verlässt sie die elterliche Wohnung im Stadtteil Laim.
Um 21:40 Uhr trifft sie gemeinsam mit ihrem Schulfreund in der Kneipe "Zum Vollmond" ein. Der Abend wird länger als erwartet: Als sie zufällig auf zwei Bekannte ihres Schulfreundes treffen, lassen sie den Abend noch in der nahegelegenen Wohnung eines der beiden Bekannten ausklingen.
In der Nacht verschwindet Sonja Engelbrecht spurlos
Erst am frühen Dienstagmorgen, gegen 2 Uhr, machen sich Sonja und ihr Begleiter auf den Heimweg. Am zentral gelegenen Stiglmaierplatz trennen sich kurz darauf ihre Wege: Die letzte U-Bahn ist längst abgefahren, und für ein Taxi fehlt den beiden das Geld. Während er sich sputet, um die Nacht-Tram zu erwischen, will Sonja Engelbrecht ihre Familie anrufen, um sich abholen zu lassen.
Als sie gegen halb drei Uhr nachts die Tür zu einer der gelben Telefonzellen öffnet, fährt gerade die Tram ein. Ihr Begleiter steigt ein, Sonja bleibt allein zurück. Bis heute ist unklar, ob Sonja Engelbrecht tatsächlich versucht hat, jemanden anzurufen. Weder ihre Schwester noch ihre Mutter hörten in jener Nacht das Telefon klingeln. Das sei für Sonja auch unüblich gewesen, betont die Familie später immer wieder. Fest steht nur: Es ist das letzte Mal, dass die 19-Jährige lebend gesehen wird.
Sonja hatte keinen Grund, von zu Hause auszureissen
Am Dienstagmorgen glauben Sonjas Eltern zunächst noch, dass sie bei Freunden übernachtet hat. Als am Nachmittag des 11. Aprils immer noch jede Spur von ihrer Tochter fehlt, beginnen sie, sich Sorgen zu machen. Sie telefonieren alle Freunde der 19-Jährigen durch. Bei niemandem hat Sonja die vergangene Nacht verbracht. Am Mittwoch geben die Eltern schliesslich eine Vermisstenanzeige auf, doch die Polizei wird nicht sofort aktiv – Sonja ist volljährig und darf sich aufhalten, wo immer sie will.
Ihre Familie beschreibt Sonja als zuverlässig, das Verhältnis zu ihr sei gut. Sie sei gesellig, Fremden gegenüber jedoch eher schüchtern. Neben ihrem grossen Freundeskreis gebe es auch einige Verehrer – doch einen festen Freund hat Sonja zum Zeitpunkt ihres Verschwindens nicht. Die Ermittlerinnen und Ermittler sind sich schnell sicher: Sonja hatte keinen Grund, von zu Hause auszureissen.
Als die 19-Jährige zwei Wochen lang verschwunden bleibt, wird die Münchner Mordkommission aktiv. Bundesweit wird über das Verschwinden der Schülerin berichtet. Die Beamten befragen mehr als 80 Personen aus dem Umfeld der Vermissten, und auch die Familie lässt nichts unversucht, um Sonja wiederzufinden. Jahrelang.
Sie verteilt Flugblätter, richtet eine Homepage ein, tritt 2012 in der "Aktenzeichen XY … ungelöst"-Sonderfolge "Wo ist mein Kind?" auf und besucht 2013 die Talkshow von Sandra Maischberger – doch keiner der eingehenden Hinweise bringt die Ermittlungen entscheidend voran.
Einem Anrufer, der behauptet, Sonja in einem Budapester Nachtclub gesehen zu haben, geben sie 7.500 D-Mark, um ihre Tochter zurückzubringen. Die Angaben des Mannes klingen plausibel – doch er ist nur ein Betrüger, der aus der Verzweiflung der Familie Kapital schlägt.
Knochenfund im Altmühltal
Jahrzehntelang bleibt völlig unklar, was mit Sonja Engelbrecht in jener Nacht passiert ist. Es müssen erst 25 Jahre vergehen, bis aus Ungewissheit traurige Gewissheit wird.
Im Sommer 2020 stösst ein Forstarbeiter im Wald des Altmühltals nahe der Gemeinde Kipfenberg, rund 100 Kilometer von München entfernt, auf einen menschlichen Oberschenkelknochen. Ein späterer DNA-Abgleich beweist: Er stammt von Sonja Engelbrecht.
Noch im November durchsuchen rund 500 Beamte ein rund 250.000 Quadratmeter grosses Gebiet im Naturpark Altmühltal. Es werden spezialisierte Leichenspürhunde aus Kroatien eingesetzt, doch der Winter unterbricht die Suche.

Erst Ende März 2022 wird das Waldgebiet erneut durchkämmt. Diesmal kommen an den steilen Felshängen auch Kletterexperten zum Einsatz – und diese werden am zweiten Tag ihrer Suche fündig: In einer abgelegenen Felsspalte, rund 200 Meter von der ersten Fundstelle entfernt, finden sie weitere Knochenteile. Auch sie gehören zu Sonja Engelbrecht.
Neben dem fast vollständigen Skelett entdecken die Ermittlerinnen und Ermittler in der Felsspalte eine grössere Menge Plastikfolie und Klebebandstreifen mit Resten weisser Wandfarbe sowie Überreste einer Kunstfaserdecke. Auch Sonjas Schmuck wird gefunden, doch von ihrer Kleidung fehlt jede Spur – was aus Sicht der Ermittelnden die Theorie eines Sexualverbrechens nahelegt.
Die Decken-Fragmente werden 2023 in einer weiteren "Aktenzeichen XY"-Sendung gezeigt. Mit Hilfe von zwei Anruferinnen hält die Polizei kurz darauf eine Vergleichsdecke in den Händen: Sie ist blau und schwarz, darauf abgebildet ist ein Liebespaar.
Ist der Täter im Altmühltal zu Hause?
Auch wenn die Eltern zunächst Zweifel haben, schliesst die Polizei Sonjas Begleiter in jener Nacht schon früh als Tatverdächtigen aus. Die Ermittlerinnen und Ermittler vermuten, dass Sonja zu jemandem ins Auto gestiegen ist – entweder freiwillig oder unter Zwang.
Doch warum legte der Täter die Leiche ausgerechnet in dieser Felsspalte ab? So makaber es klingt: Es hätte naheliegendere und einfachere Orte gegeben, um eine Leiche zu entsorgen.
Der Felsen im Altmühltal ist abgelegen und schwer zu erreichen. Die nächste Abfahrt von der A9 aus München kommend ist sechs Kilometer entfernt. Die letzten 200 Meter muss der Täter die 1,70 Meter grosse Sonja zu Fuss durch unwegsames Gelände geschleppt haben – und den Felsen sieht man erst, wenn man direkt vor der Steilkante steht. Dort nachts ohne Ortskenntnis herumzustolpern, ist gefährlich.
Das lässt aus Sicht der Ermittlerinnen und Ermittler nur einen Schluss zu: Der Täter kannte die Gegend genau – entweder, weil er sie zuvor gründlich ausgekundschaftet hat oder weil er dort zu Hause ist. Das rückt Forstarbeiter und Jagdberechtigte aus der Region in den Fokus der Ermittlungen. Sie werden überprüft. Ohne Erfolg.
Die Farbreste an Plastikfolie und Klebeband legen ausserdem nahe, dass der Täter zuvor mit Maler- oder Renovierungsarbeiten beschäftigt war, privat oder gewerblich. Gleichzeitig fand in München die weltgrösste Messe für Baumaschinen, die "Bauma", statt – könnte es da einen Zusammenhang geben?
Zwei Jahre nach Sonjas Verschwinden ereignete sich in Freiburg im Breisgau ein ganz ähnlicher Fall: 1997 wurde die 26 Jahre alte Studentin Eva Götz entführt, missbraucht und getötet. Ihre Leiche wurde fast 100 Kilometer entfernt in einem Wald bei Tuttlingen gefunden. Damals fand auch in Freiburg eine Industriemesse statt – wurden beide Frauen womöglich Opfer desselben Täters? Die Ermittlerinnen und Ermittler schliessen einen Serientäter nicht aus.
2024: Erneuter DNA-Reihentest im Altmühltal
Zuletzt wurden im März 2024 erneut mehr als 80 Männer aus der Region Kipfenberg zur freiwilligen DNA-Probe gebeten. Einen entscheidenden Treffer gab es offenbar nicht. Allerdings sind nicht alle der Geladenen dem Aufruf der Polizei gefolgt. Einige hatten sich im Vorfeld wegen Krankheit oder Arbeit abgemeldet, andere reagierten gar nicht. Letztere dürften für die Polizei von besonderem Interesse sein. Sie wurden erneut angeschrieben – automatisch verdächtig sind sie deswegen aber nicht.
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Seitdem ist es still um den Fall Sonja Engelbrecht geworden. Für Hinweise, die zur Klärung der Tat oder zur Ergreifung des Täters führen, hat die Polizei mittlerweile eine Belohnung von 10.000 Euro ausgelobt. Doch auch 30 Jahre nach dem Verschwinden von Sonja herrscht weder Klarheit darüber, wie genau die Schülerin zu Tode kam, noch wer für ihr Verschwinden und ihren Tod verantwortlich sein könnte.
Der bekannteste "Cold Case"-Fall Münchens wird aber noch lange nicht zu den Akten gelegt. Immer wieder gelingt es Ermittelnden, alte Fälle noch nach Jahrzehnten aufzuklären. Und so hoffen auch die Ermittlerinnen und Ermittler in München darauf, Sonja Engelbrecht und ihrer Familie eines Tages Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Verwendete Quellen
- Chronik.net: "Wetter in Deutschland am 10.4.1995"
- Dailymotion.de: "Aktenzeichen XY Cold Cases vom 01.03.2023"
- Polizei Bayern: "Ermittlungen wegen eines mutmasslichen Tötungsdeliktes - Sonja Engelbrecht"
- Homepage Sonja Engelbrecht: "Wo ist Sonja Engelbrecht?"
- Süddeutsche Zeitung: "Wer ermordete Sonja Engelbrecht?"
- Süddeutsche Zeitung: "Fall Sonja Engelbrecht: Kripo macht sich auf Mördersuche mit Wattestäbchen"