Eigentlich soll es in Afghanistan bald Frieden geben. Die USA und die Taliban stehen kurz vor einer Einigung über eine politische Lösung. Doch wie der blutige Anschlag auf eine Hochzeit in Kabul zeigt, gibt es jemanden, der kein Interesse an einem Ende des Blutvergiessens hat.

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Körper liegen in der festlich geschmückten Hochzeitshalle leblos zwischen umgeworfenen, weiss bezogenen Stühlen. Auf den Tischen steht noch das Essen. Die Decke ist schwer demoliert, Tapeten hängen in Fetzen herab. Ein Mann hält eine blutgetränkte Mädchensandale in der Hand. Die Bilder, die am späten Samstagabend von Afghanen in soziale Medien hochgeladen werden und sich über das Internet blitzschnell verbreiten, sind kaum zu ertragen. Ein Selbstmordattentäter hatte sich mitten in einer Hochzeitsgesellschaft im Südwesten Kabuls in die Luft gesprengt.

Mehr als 60 Menschen wurden nach offiziellen Angaben getötet. Eine Familie musste am Sonntag allein für 15 Angehörige Gräber ausheben. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich. Sie hatte in der Vergangenheit immer wieder praktisch ungeschützte zivile Ziele angegriffen und dabei Dutzende Menschen getötet. Im Vorjahr waren ein Sportclub mit Ringern darunter, ein Bildungsinstitut mit Schülern, die sich auf die Universitätsaufnahmeprüfung vorbereiteten oder eine Hebammenschule.

Der IS bekannte sich zur Tat

Hochzeiten gehören eigentlich zu den seltenen Anlässe zur Freude, die den Afghanen in ihrem kriegszerrissenen Land geblieben sind. Männer und Frauen feiern getrennt. Viele Frauen kommen mit aufwändigem Make-up und Glitzer in den Hochsteckfrisuren und bringen prall gefüllte Sporttaschen und Plastiktüten mit Kleidung mit in die Hochzeitshallen, um bei jedem Programmpunkt in einem neuen Outfit ihre Kreise auf der Tanzfläche zu ziehen.

Die Hochzeiten werden ungeachtet aller Krisen im Land traditionell gross gefeiert, üblicherweise mit mehreren Hundert Geladenen. Es gilt als Pflicht, nicht nur alle Verwandten, sondern auch das ganze Dorf oder die Nachbarschaft einzuladen. Wer bei einer anderen Hochzeit das Essen des Vaters gegessen hat, muss später auch dessen Sohn einladen.

Der Frieden - bis auf Weiteres eine Illusion?

Der heimtückische Anschlag auf die Hochzeitsfeier in Kabul hat sogar die hartgesottensten Afghanen berührt. Nicht nur wegen seiner unglaublichen Brutalität, sondern auch, weil seit mehreren Monaten im Land tagein und tagaus von Frieden geträumt wird.

Seit mehr als einem Jahr reden die USA mit den aufständischen, radikalislamischen Taliban über eine politische Beilegung des langjährigen Konflikts. Nach den Al-Kaida-Angriffen von 2001 in New York und Washington waren die Taliban, die Al-Kaida-Chef Osama bin Laden beherbergt hatten, von den USA an der Spitze einer internationalen Militärintervention von der Macht vertrieben worden. Seit dem Abzug Zehntausender internationaler Soldaten aus dem Land haben die Taliban rasant an Stärke gewonnen. US-Generäle sprechen seit Langen von einem militärischen Patt.

Bei den USA-Taliban-Gesprächen im Golfemirat Katar, wo US-Delegierte jüngst in schicken Anzügen und Militäruniformen Taliban mit ihren schwarzen Turbanen und weissen Gewändern gegenübersassen, geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem Rückzugsort für Terroristen wird. In den vergangenen zwei Wochen hiess es jeden Tag, man stehe kurz vor einem Abkommen, das dann innerafghanische Friedensgespräche, also einen direkten Dialog zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban, in Gang setzen soll. Die Islamisten würden in der Folge an der Macht in Afghanistan beteiligt.

Die Toleranz für Gewalt sinkt

Je mehr das USA-Taliban-Abkommen sowie innerafghanische Gespräche - und damit Frieden - in greifbare Nähe rücken, desto schmerzvoller ist für die Afghanen jeder Tote, desto geringer wird ihre Toleranz für jede Art von Gewalt.

Der Anschlag in Kabul ist für viele Afghanen eine schmerzvolle Erinnerung daran, dass sie sich trotz der grössten Fortschritte der vergangenen Jahre im Friedensprozess mit den Taliban weiter keinen Illusionen über ein schnelles Ende der Gewalt hingeben können. Auch wenn die Taliban einem Waffenstillstand zustimmen, droht den Menschen weiter Gefahr - durch die Extremisten der Terrormiliz IS.

Die IS-Angriffe nehmen wieder zu

Doch wie gross ist diese Gefahr? Erstmals war der IS in Afghanistan Anfang 2015 aufgetaucht. Er will dort sowie auf pakistanischem Gebiet seitdem eine "Provinz" namens IS-Chorasan etablieren. Die USA und die afghanische Regierung haben die Extremisten von Anfang an intensiv am Boden und aus der Luft bekämpft. Auch die Taliban liefern sich regelmässig tagelange Gefechte mit ihnen.

Die Zahl der IS-Angriffe war vor allem im Vorjahr stark angestiegen, in den ersten sechs Monaten 2019 allerdings gesunken. Nach einem UN-Bericht zu den zivilen Opfern der Konflikte in Afghanistan wurden im Jahr 2018 bei dem IS zugerechneten Anschlägen fast 700 Menschen getötet und 1500 verwundet. Damit war der IS für rund ein Fünftel der 3804 zivilen Todesopfer 2018 verantwortlich. In den ersten sechs Monaten 2019 sank dieser Anteil auf 11 Prozent.

"Wir müssen trotzdem vorsichtig sein"

Der IS hat in den vergangenen Monaten militärische Rückschlage erlitten, Kommandeure und Territorium verloren. Nach einem UN-Bericht von Juni allerdings bleibt der IS-Ableger die grösste und bedrohlichste Präsenz der Terrormiliz ausserhalb des Iraks und Syriens. Nachdem er im Sommer des Vorjahres aus der Provinz Dschausdschan vertrieben worden war, habe er nun keine sichtbare Präsenz mehr im Norden des Landes, heisst es weiter. Allerdings sollen im Osten des Landes, vor allem in und rund um die Provinzen Nangarhar und Kunar, 2500 bis 4000 IS-Kämpfer aktiv sein.

Nach Einschätzung des afghanischen Sicherheitsexperten Daulat Wasiri ist die IS-Präsenz in Afghanistan durch den andauernden militärischen Druck auf sie heute nicht mehr so besorgniserregend, wie noch vor einem Jahr. Sollten sich die Regierung und die Taliban nach einem Friedensschluss zusammentun, könnten sie ihn auslöschen.

"Wir müssen aber trotzdem vorsichtig sein", warnt der Experte. Denn sollten im Falle eines Friedensschlusses nicht alle Taliban-Kämpfer - ihre Zahl wird auf rund 60 000 geschätzt - gut in die Gesellschaft integriert werden, könnten sich viele Enttäuschte dem IS anschliessen - und dann das gesamte Land bedrohen. Und dann könnten weitere Hochzeiten als Trauerfeiern enden. (best/dpa)

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