Der Mordanschlag auf den Ex-Doppel-Agenten Sergej Skripal auf britischem Boden vergiftet bis heute die internationalen Beziehungen. Auch ein Jahr danach bleibt es in dem Agenten-Thriller spannend.

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Zusammengesackt, dem Tode nahe, sitzen Sergej und Julia Skripal vor einem Jahr auf einer Parkbank im südenglischen Salisbury. In ihren Augen ist nur das Weisse zu sehen, Schaum läuft aus den Mündern. Was zunächst nach Drogenmissbrauch aussieht, entpuppt sich als Agenten-Thriller. Die Waffe: das Nervengift Nowitschok, das einst in der Sowjetunion hergestellt wurde. Die Folge: eine internationale Krise und Sanktionen gegen Russland. Die Täter: auf freiem Fuss. Das Motiv: unklar - aber viele Spekulationen.

Familie hat kein Lebenszeichen von Sergej und Julia Skripal

Die Opfer seien an einem sicheren Ort – "es ist unsere Verantwortung ihnen gegenüber, sie zu schützen", sagte der britische Botschafter in Moskau, Laurie Bristow, der russischen Nachrichtenagentur Interfax zum Jahrestag. Es wird dennoch viel spekuliert. Victoria, die Nichte des Ex-Spions, sagte der Moskauer Zeitung "Komsomolskaja Prawda", dass die Familie kein Lebenszeichen habe von den beiden.

Julia, die der Zeitung zufolge noch eine Wohnung in Moskau hat, meldete sich Ende Mai 2018 das letzte Mal öffentlich zu Wort. An ihrem Hals war in dem britischen TV-Interview eine grosse Narbe zu erkennen, wochenlang musste sie über einen Schlauch in der Luftröhre beatmet werden. Der Heilungsprozess sei "langsam und extrem schmerzhaft" gewesen, sagte sie. Sind sie und ihr Vater wieder ganz gesund? Experten sind skeptisch: Chronische Schäden und Spätfolgen seien bei dem extrem gefährlichen Nervengift nicht auszuschliessen.

Ein Polizist, der als einer der ersten zum Tatort eilte, musste auch im Krankenhaus behandelt werden. Monate später der nächste Schock: Eine dreifache Mutter starb qualvoll im Krankenhaus an Nowitschok. Ihr Lebenspartner hatte einen Flakon mit dem Gift gefunden, das er für Parfüm hielt und ihr schenkte. Experten der Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) stellten fest: "Wir haben keinen Zweifel, dass beide Vorfälle miteinander zusammenhängen."

Salisbury seit Freitag offiziell Nowitschok-frei

Die idyllische Kleinstadt Salisbury wurde auf den Kopf gestellt. Erst am vergangenen Freitag erklärten Experten sie offiziell für Nowitschok-frei. Insgesamt hatten bis zu 800 Spezialisten zwölf Areale auf Spuren des Nervengifts überprüft und gesäubert. Besonders im Fokus: Das Haus des Ex-Spions; dort war die Substanz auf der Klinke der Haustür gestrichen worden.

Skripal war Doppel-Agent des russischen Militärgeheimdienstes GRU und flog 2004 auf. In Russland wurde er zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. Bei einem Gefangenenaustausch kam er 2010 nach England. "Wir haben Angst vor (dem russischen Präsidenten Wladimir) Putin", sagte Skripal in einem Interview vor dem Anschlag. Sein eigenes Risiko stufte er hingegen als gering ein.

In Grossbritannien hatten in den vergangenen Jahren mehrere mysteriöse Todesfälle von Exil-Russen für Aufsehen gesorgt. 2006 starb dort unter den Augen der Weltöffentlichkeit auf seinem Krankenbett der frühere russische Geheimdienstmitarbeiter Alexander Litwinenko an dem Strahlengift Polonium 210.

"Antirussische Kampagne"

Die Reaktion aus Moskau? Immer die gleiche: Leugnen und die Schuld anderen geben. Der Fall Skripal sei "eine in ihrem Ausmass bisher beispiellose antirussische Kampagne", meinte die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa. Vor allem die britischen Medien würden das Thema am Köcheln halten. "Die Lage ist wirklich paradox – es gibt immer Nachrichten über die Skripals, aber am Ende weiss die Welt nichts über sie oder das Geschehene", sagte Sacharowa. Es fehlten Beweise.

Dabei sehen die Briten den russischen Staat überführt – anhand auch von Videoaufnahmen der Verdächtigen, die im Auftrag von Skripals früherem Dienstherrn GRU gehandelt haben sollen. "Aber wir haben nicht alles öffentlich gemacht, was wir wissen", sagte Botschafter Bristow in Moskau. Das sei am Ende Sache des Gerichts.

Verschwörungstheoretiker meinen, dahinter könnte ein Komplott westlicher Geheimdienste stehen, um Russland nicht zuletzt mit dem Vorwurf, weiter im Besitz von Chemiewaffen zu sein, ins internationale Abseits zu schieben und mit Sanktionen immer weiter unter Druck zu setzen. Investigative Recherchen auch russischer Journalisten ergaben aber, dass die genannten Verdächtigen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow in Wahrheit Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga hiessen und ranghohe GRU-Offiziere seien. Beide hatten in den vergangenen Jahren mehrfach Westeuropa besucht – jedoch nur als Touristen, wie sie im russischen Staatsfernsehen Russia Today behaupteten.

Langer Arm Moskaus reicht überall hin

Auch der Moskauer Schriftsteller Dmitry Glukhovsky ("Metro"), ein Experte für skurrile Geschichten, sieht Russland als Täter. Aus Sicht des Kremlkritikers ging es nicht vorrangig darum, den zu den Briten übergewechselten Agenten Skripal als Verräter zu bestrafen. "Ich sehe es vielmehr als Zeichen an Kremlgegner und –anhänger gleichermassen, die viel wissen über das russische Machtsystem, sie davor zu warnen, sich abzusetzen und ihre Heimat zu verkaufen", sagte Glukhovsky der Deutschen Presse-Agentur. Es gehe darum, etwa Beamten und Unternehmern zu zeigen, dass der lange Arm Moskaus überall hin reiche.

(dpa/af)

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