Eine schwere Wirtschaftskrise setzt dem Libanon und seinen Bewohnern seit Monaten zu. Die Corona-Pandemie verschärfte die Lage noch. Nun befürchten Beobachter nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut auch noch eine Hungerkrise.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Die Einwohner Beiruts sind Leid gewohnt. Doch die Explosion im Hafen der Stadt war so mächtig, dass sie alles in den Schatten stellt, was die Menschen bislang erlebt haben.

Die Bilder und Videos von der Detonation am Dienstag erinnern an den Abwurf einer Atombombe. Ein riesiger Pilz aus Staub schiesst in den Himmel. Die Druckwelle ist so gewaltig, dass sie Hochhäuser zerstört, Autos zertrümmert und Menschen zu Boden schleudert. Zurück bleibt ein Bild der Verwüstung. Und eine Stadt unter Schock.

Der Hafen, die Lebensader des Landes, liegt zu grossen Teilen in Schutt und Asche. Das ganz Aussmass des Schreckens zeigt eine Luftaufnahme des US-Senders CNN: Die Detonation sprengte einen grossen Teil von Getreidesilos im Hafen. Und sie riss einen riesigen Krater auf, der sich mit Meerwasser füllte.

Auch die angrenzenden Wohngebiete, darunter Beiruts berühmte, beliebte und oft belebte Ausgehviertel, sind zerstört. Kein Gebäude bleibt ohne Schäden. Hochhäuser sehen aus wie ausgebrannte Skelette. Selbst in Orten rund 20 Kilometer von Beirut entfernt gingen Fensterscheiben zu Bruch.

Auch die Opferzahl ist verheerend: Mehr als 135 Menschen starben, etwa 5.000 wurden verletzt. Beiruts Gouverneur Marwan Abbud schätzt, dass bis zu 250.000 Einwohner ihre Wohnungen verloren haben.

"Fast die Hälfte von Beirut ist zerstört oder beschädigt", so Abbud. Der Politiker war so verzweifelt, dass er bei einem Besuch am Unglücksort vor laufender Kamera kurz in Tränen ausbrach.

Anwohner sprechen von "Apokalypse"

Ein Geruch von Tod und Blut liegt auch am Tag danach noch über der Stadt. Menschen fegen die Scherben zusammen, die überall auf den Strassen liegen. Manche sprechen von einer "Apokalypse".

"Wir haben einen Bürgerkrieg erlebt, wir haben schon früher Bomben gehört", sagt der Ingenieur Sam Saidan in der Nähe des Hafens. "Aber nichts war wie das hier." Auch Mohammed al-Hadsch, Besitzer eines kleinen Ladens, klagt: "Wir erleben ohnehin schlimme Zeiten. Und das kommt jetzt auch noch obendrauf."

Schon vor der Explosion war die Wut der Menschen auf die libanesische Machtelite gross. Jetzt ist sie noch weiter gewachsen. Eine Frau, die auf ihrem beschädigten Balkon steht, weint und brüllt: "Präsident, Regierung und Parlament sollten sofort zurücktreten."

In den Kliniken spielten sich Szenen der Verzweiflung ab. Das ohnehin geschwächte Gesundheitssystem des Landes war mit der Versorgung einer so grossen Zahl von Opfern überfordert. Ein älterer Mann sass am Dienstagabend vor dem Krankenhaus der Amerikanischen Universität und wartete auf eine Behandlung, der Körper mit Blut bedeckt.

"Ich war in der Küche am Kochen, als ich plötzlich in Richtung des Wohnzimmers geschleudert wurde", erzählt er. "Erst dachte ich an ein Erdbeben. Meine Wand stürzte ein, Glassplitter fielen auf mich herab."

Untersuchung soll Ursache der Explosion klären

Offenbar gab es im Hafen zunächst eine erste Explosion, gefolgt von kleineren, wie bei einem Feuerwerk. Auf Videos ist eine Rauchwolke zu sehen, die aufsteigt. Feuer bricht aus. Dann folgt die zweite, verheerende Detonation, die die massiven Schäden anrichtet.

Eine Frage überschattet alles: Wie konnte es zu dieser gewaltigen Explosion kommen? Schnell verbreiteten sich Gerüchte, das verfeindete Nachbarland Israel habe die libanesische Schiitenorganisation Hisbollah bombardiert.

Dafür gibt es aber keine Hinweise. Vieles spricht für ein Unglück infolge von Fahrlässigkeit. Möglicherweise wurde die Explosion durch eine grosse Menge Ammoniumnitrat ausgelöst, die seit Jahren im Hafen von Beirut gelagert worden sein soll. Genaues soll eine Untersuchung der Detonation ergeben.

Verzweiflung nach Detonation: "Wir sind am Ende"

Der Libanon ist ohnehin ein geplagtes Land. Erst brach eine Wirtschaftskrise über die Menschen herein, die schlimmste seit dem Ende des 15-jährigen Bürgerkrieges vor rund 30 Jahren. Dann verschärfte die Corona-Pandemie die Lage noch weiter.

Die nationale Währung, das libanesische Pfund, ist abgestürzt. Grosse Teile der Bevölkerung sind unter die Armutsgrenze gerutscht und wissen nicht mehr, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollen. Sie geben dafür einer korrupten Machtelite die Schuld, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, das Land hemmungslos geplündert zu haben.

Beobachter warnen nun vor weiteren Versorgungsengpässen. Der Libanon hängt stark von Lieferungen aus dem Ausland ab, die in erheblichem Masse über den jetzt zerstörten Hafen liefen.

"Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanon und für das Land im Allgemeinen", prophezeit der Analyst Makram Rabah. Die Menschen könnten ihre Häuser nicht wieder aufbauen, weil ihnen das Geld fehle.

In Beiruts Hafen seien unter anderem Getreidesilos zerstört worden. "Wenn wir uns die Zerstörung dieser Silos anschauen, dann bedeutet das, dass wir auf eine Hungerkrise und Engpässen bei Brot zusteuern."

Einer Frau, die direkt gegenüber dem Hafens lebt, steht der Schock auch am Tag danach noch ins Gesicht geschrieben. "Wir sind obdachlos, wir sind am Ende", schreit sie. "Ich wünschte, ich wäre gestorben." (dpa/thp)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.