Der Pélicot-Prozess in Frankreich steht kurz vor einem Urteil. Für den Hauptangeklagten hat die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe von 20 Jahren gefordert. Der Prozess um die Massenvergewaltigungen von Gisèle Pélicot hat das Land verändert. Auch Gesetzesänderungen könnten nun auf den Weg gebracht werden. Worum es konkret geht und an welcher Stelle noch ein weiter Weg zu gehen ist.
Es ist ein Prozess, der weit über die zahlreichen Verhandlungstage seit September hinausgeht, der grösser ist als Avignon, wo der Gerichtsprozess stattfand und grösser als Mazan, dem südfranzösischen Ort, in dem der heute 72-jährigen Gisèle Pélicot die grausamen Taten angetan wurden.
Die Presse nennt den Prozess gegen Dominique Pélicot und 51 weitere Männer bereits jetzt historisch. Feststeht: Der Fall, der in seine Endphase geht, hat Frankreich verändert. Für den Hauptangeklagten Dominique Pélicot fordert die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe von 20 Jahren Haft. Der ehemalige Premierminister Michel Barnier sagte, es werde "ein Vorher und ein Nachher geben".
Zum "Vorher" gehört die Anonymität. Denn mit ihr hat Gisèle Pélicot gebrochen. Bewusst hat sie die mehr als 90 Taten, in denen sie von ihrem Ehemann Dominique Pélicot betäubt und anderen Männern zum Sex angeboten wurde, in der Öffentlichkeit verhandeln lassen. Sie hätte die Öffentlichkeit – wie sonst üblich – ausschliessen lassen können. Sie wäre in Berichten, die es sicherlich nicht in so zahlreicher Form gegeben hätte, nur Madame P. genannt worden.
Gisèle Pélicot gibt den Opfern von sexualisierter Gewalt eine Stimme
Stattdessen gibt Gisele Pélicot Opfern von sexualisierter Gewalt ein Gesicht und eine Stimme. Sie ist zum Vorbild, gar zur feministischen Ikone geworden. Vor den Gerichtsterminen versammelten sich jedes Mal jubelnde Unterstützerinnen, die ihr dankten.
Pélicot zeigt ihnen: Es lohnt sich, den juristischen Weg zu gehen, Täter können zur Verantwortung gezogen werden. Pélicot hat unheilbare Wunden davongetragen, das sollte man nicht vergessen, wenn sie immer wieder als "mutig" beschrieben wird. Doch sie trägt ihren Kopf noch immer oben, versteckt sich nicht.
"Die Scham muss die Seiten wechseln", lautet eins der bekanntesten Statements von Pélicot, das den Ton für die nächsten Jahrzehnte setzt. So sorgte sie auch dafür, dass im Gerichtssaal Beweismaterial öffentlich vorgeführt wurde – Aufnahmen von Vergewaltigungen aus nächster Nähe, oft in grellem Licht.
Damit hat Pélicot die Grenze dessen verschoben, was in Frankreich öffentlich und ohne Scham gezeigt werden kann. Selbstredend nicht in eine solche Richtung, die für Demokratie und Rechtsstaat gefährlich ist, sondern in eine solche, die patriarchale Strukturen angreift.
Querschnitt der Gesellschaft
Der Pélicot-Prozess greift auch das Bild von Vergewaltigern in den Köpfen der Menschen an. Die angeklagten Männer, zum Tatzeitpunkt zwischen 22 und 67 Jahren alt, sind nicht mit schwarzer Maske in der Nacht aus einem Busch gesprungen oder haben Frauen in ein Auto gezerrt. Es sind Beamte und Handwerker, Akademiker und Rentner – sie zeigen den Querschnitt der Gesellschaft. Die Täter mussten nicht von weit her anreisen, sie kamen aus der näheren Umgebung gefahren.
Die Massenvergewaltigungen waren nur durch Zufall ans Licht gekommen. Als Dominique Pélicot dabei erwischt wurde, wie er Frauen unter den Rock filmte, wurde sein gesamter Computer durchsucht. Ans Licht kamen dabei auch die Ordner mit den grausamen Videos, die Pélicot von seiner damaligen Ehefrau gemacht hatte. Plötzlich konnte sie ihre gesundheitlichen Beschwerden wie Erinnerungslücken und Schlafprobleme zuordnen.
Neues Bild von Vergewaltigern
Vor Gericht behaupteten mehrere der Angeklagten, "nicht die Absicht" gehabt zu haben, Gisele Pélicot zu vergewaltigen. Sie flüchteten sich in Ausreden – etwa, dass sie von einem inszenierten Szenario ausgegangen seien oder nur mit dem Finger in das Opfer eindrangen.
Nahestehende von Angeklagten äusserten Sätze wie: "Das sieht ihm nicht ähnlich" oder "Er ist doch kein Vergewaltiger." Der Pélicot-Prozess hat gezeigt, dass sie es doch sind – auch ohne schwarze Maske, ohne Messer und Angriff in der Nacht. "Es ist an der Zeit, Vergewaltigung mit anderen Augen zu sehen", sagte Pélicot am Dienstag (17. Dezember) bei ihrer abschliessenden Anhörung in Avignon.
Anpassungen im Gesetz
Mit ihrem Prozess hat Pélicot bereits jetzt eine Debatte über "Nur Ja heisst Ja" in Frankreich angestossen. Am Ende dieses gesellschaftlichen Diskurses könnte eine Neudefinition des Straftatbestands im französischen Gesetz stehen. Aktuell handelt es sich nach französischem Recht nur dann um eine Vergewaltigung, wenn ein Täter Gewalt oder Zwang ausübt oder damit droht.
Die Frage der Zustimmung spielt bislang keine Rolle. Der französische Justizminister Didier Migaud hat sich bereits dafür ausgesprochen, das zu ändern und das Fehlen der Einwilligung mit aufzunehmen.
Argumente zählen nicht mehr
Noch an anderer Stelle dürfte sich etwas in französischen Gerichtssälen ändern: Manche Argumente zählen nicht mehr. Gisele Pélicots zweiter Anwalt, Antoine Camus, sagte passend: "Manche Verteidigungsstrategien haben nicht mehr ihren Platz in einem Gerichtssaal in Frankreich im 21. Jahrhundert."
Durch die Aussagen der Angeklagten war deutlich geworden, dass noch immer die Vorstellung vorherrscht, man könne die Erlaubnis über den Körper einer Frau vom Ehemann erhalten. Ebenso bemühte die Verteidigung immer wieder das Narrativ, Gisele Pélicot trage irgendeine Form der Mitverantwortung an den Taten. Dieses alte Argumentationsmuster sollte nach dem Prozess endgültig in die Mottenkiste verbannt worden sein.
"Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung", unterstrich auch Pélicot im Gerichtssaal. Sie stellte ihren Peinigern eine Frage: "Wann genau hat Frau Pélicot Ihnen eigentlich ihr Einverständnis gegeben?"
Noch ein weiter Weg
Doch der Pélicot-Prozess, so viel Strahlkraft er hat – er zeigt auch, wie weit der Weg noch zu gehen ist. Auf den Strassenmauern in französischen Städten sind Sätze zu lesen wie "Gisele, les femmes te remericent" (dt.: Die Frauen danken dir). Aber: Wo sind die Männer? Auch bei den Demonstrationen für Frauenrechte in Avignon sind hauptsächlich Frauen zu sehen gewesen.
Zwar hat sich die Berichterstattung über Vergewaltigungen bereits gewandelt – auch die konservativen Zeitungen haben den Prozess begleitet und dabei sexuelle Gewalt als allgemeines Problem, nicht als einzelnes Schicksal, thematisiert. Doch um Gisele Pélicots Forderung "Es wird Zeit, dass sich die Macho-Gesellschaft, die Vergewaltigungen banalisiert, ändert" umzusetzen, müssen die Männer lauter werden. Journalistin Shila Behjat, Autorin des Buches "Söhne grossziehen als Feministin" betont beispielsweise: Es gehe nicht nur um die gewalttätigen Männer, sondern auch um die, die das tolerieren, nicht laut werden und sich nicht dagegenstellen.
Hilfsangebote
- Wenn Sie selbst von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" (116 016 oder online), das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" (0800/1239900 oder online), das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" (0800/225 5530), in Österreich an die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar, 01/3340 437) und in der Schweiz an die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana, 031/3131 400)
- Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
- Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
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