Lasse Stolley ist 17 Jahre alt und lebt im Zug. Mit seiner BahnCard 100 fährt er jeden Tag durch Deutschland. Im Interview mit unserer Redaktion erzählt er von nächtlichen Begegnungen, seiner Arbeit als Software-Entwickler und gibt Tipps zu den schönsten Bahnstrecken der Republik.
Lasse, wie kommt man auf die Idee, im Zug zu leben?
Lasse Stolley: Der Grund, warum ich im Zug lebe, war Freiheit. Jeden Tag neu entscheiden zu können, wohin man fahren will. Einfach zu schauen, will ich jetzt gerade in eine Grossstadt oder ans Meer oder in die Berge – und dann kann man einfach dahin fahren. Der Auslöser war im Sommer 2022. Ich hatte meinen Realschulabschluss gemacht und wollte eine Ausbildung als Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung starten. Doch die wurde kurzfristig abgesagt, weil der Arbeitgeber die Anforderungen als Ausbildungsbetrieb noch nicht erfüllt hatte. Und da brauchte ich innerhalb von ein paar Wochen eine neue Lösung, was ich nun das nächste Jahr mache. Ich hatte mich an einen Beitrag im Frühstücksfernsehen erinnert, in dem über jemanden berichtet wurde, der im Zug lebte. Ein paar Tage später war auch schon die BahnCard 100 gekauft.
BahnCard 100 statt Ausbildungsplatz: "Ich musste viel Überzeugungsarbeit leisten"
Was haben deine Eltern dazu gesagt?
Ich musste viel Überzeugungsarbeit leisten. Ich war ja gerade erst 16 geworden. Und dann zu sagen, ich zieh' jetzt aus, verkaufe all mein Hab und Gut und investiere in eine BahnCard100 – das war am Anfang ein Risiko. Aber meine Eltern wussten, dass es bei mir schwierig wird, wenn ich mir mal einen Plan in den Kopf gesetzt habe. Mittlerweile sind sie superzufrieden und unterstützen mich, wo sie können. Ich besitze fast gar nix mehr, bis auf einen Karton, der bei meinen Eltern steht, und meinen Rucksack. Weil ich Minimalismus sehr schätze.
Was befindet sich denn in deinem Rucksack?
Eine Weste, zwei T-Shirts, ein Langarmshirt, eine Wolljacke, zwei Hosen. Dazu Socken, Unterhosen, eine Decke, eine Trinkflasche und mein Laptop, Kopfhörer, Zahnbürste, Zahnpasta. Das passt alles in einen 30-Liter-Rucksack. 6,4 Kilo - das ist alles, was ich zum Leben brauche.
Wie erledigst du die täglichen Dinge des Lebens? Wo duschst du zum Beispiel?
Das ist echt die meistgestellte Frage. Meistens dusche ich im Schwimmbad. Ich hab so meine Stammschwimmbäder. Die restlichen Tage wasche ich mich in den DB-Lounges. Man muss ein bisschen improvisieren, aber das geht. Die Toiletten in der DB-Lounge werden stündlich geputzt. Sauberer geht’s nicht.
Schlafen im ICE: "Die Knie in der Luft"
Also spielt sich nicht dein ganzes Leben im Zug ab?
Ich bin oft in den DB-Lounges, da frühstücke ich zum Beispiel. Ich fahre zwar viel Zug, über 1.000 Kilometer am Tag, davon viel bei Nacht. Aber ansonsten bin ich auch oft in den Städten unterwegs. In Berlin zum Beispiel laufe ich Teile des Mauerwegs. Oder ich war in den Alpen wandern, an Silvester war ich auf dem Wendelstein, oder ich geh' in der Ostsee baden. Bewegung spielt eine grosse Rolle in meinem Leben, weil es ein wichtiger Ausgleich zum Zugfahren ist.
Das klingt alles sehr romantisch. Aber wie funktioniert das Schlafen im Zug?
Ich nutze die Nacht-ICE. Die fahren beispielsweise abends um 21 Uhr in Berlin und kommen morgens um sieben in München an. Da ist man dann zehn Stunden unterwegs. In den Zügen kann ich gut schlafen. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert – im Gepäckfach mit Luftmatratze, im Bordrestaurant oder unter den Sitzen. Mittlerweile schlafe ich auf dem Vierersitz, mit den Füssen auf dem gegenüberliegenden Platz, die Knie in der Luft in der Halbschrägen, das ist deutlich unkomplizierter.
Du bist ja ein digitaler Nomade. Arbeiten im Zug – geht das?
In der ersten Klasse hat man verhältnismässig viel Platz. Ansonsten arbeite ich auch mal in der DB-Lounge, zum Beispiel für Videokonferenzen. Ich bin Software-Entwickler und entwickle Apps bei einem kleinen Kölner IT-Start-up. Das mache ich alleine, und dabei weiss ich, was ich zu tun habe.
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Leben im Zug: "Ich vermisse ziemlich wenig."
Hand aufs Herz, was vermisst du denn am meisten?
Ich vermisse ziemlich wenig. Manchmal war es die Privatsphäre, die ich vermisst habe. Oder wenn man nicht so einen guten Tag hat und muss dann im vollen Zug sitzen, das ist nicht angenehm. Aber auch da habe ich einen Weg gefunden, damit umzugehen.
Du triffst ja sicher viele interessante Menschen. Was waren denn ein paar der Highlights?
Gerade im Nachtzug treffe ich Leute, mit denen man normal nicht in Kontakt kommt. Einmal habe ich mich eine ganze Nacht mit einem Sprengmeister unterhalten, der Bomben entschärft. Das war sehr interessant zu erfahren, wie man damit umgeht, jeden Tag mit dem Leben zu spielen. Teilweise sind im Zug schon Freundschaften entstanden. Viele meiner Freunde haben eine Bahncard 100 und dann trifft man sich halt im Zug oder der DB Lounge. Wenn man im Zug unterwegs ist, kommt man schnell mit Leuten ins Gespräch, die auch eine BahnCard 100 haben.
Ganz Deutschland ärgert sich über die Bahnstreiks. Wie wirken diese sich auf dein Leben aus?
Das macht alles noch komplizierter, als es eh schon ist. Heute Nacht habe ich auf dem Berliner Flughafen übernachtet, ab und zu übernachte ich bei Freunden, wenn Streik ist. Ich hab auch schon den Frankfurter und Münchner Flughafen ausprobiert. Da schläft es sich auch okay für eine Nacht, aber nicht so gut wie im Zug.
570.000 Kilometer mit der Bahn und kein Groll auf Claus Weselsky
Also kein Groll auf Claus Weselsky?
Überhaupt gar nicht. Ich kann die Streikenden ziemlich gut verstehen. Ich sehe selbst einige Probleme bei der Beschäftigung von Bahnpersonal. Ich kann aber auch die Bahn verstehen, die sagt, wir schaffen das personell nicht. Man muss da einen Kompromiss finden. Wie genau der aussieht, weiss ich nicht.
Was sind denn die schönsten Strecken in Deutschland? Kannst du unseren Lesern welche empfehlen?
Alle kenne ich leider noch nicht, wenn auch sehr viele. Ich habe eine digitale Karte, wo ich jede meiner Fahrten aufzeichne. Bisher bin ich über 570.000 Kilometer gereist. Die schönste Strecke ist auf jeden Fall die Rheinstrecke zwischen Frankfurt und Köln. Es geht durch die Weinberge am Rhein entlang, man kann die Schiffe beobachten.
Hat dir die Bahn eigentlich noch keinen Job als Influencer angeboten?
Bisher noch nicht. Mal sehen, ob da noch was kommt. Kommunikation ist nicht so ganz deren Ding. Aber generell scheint es Interesse an dem Thema zu geben. Dabei versuche ich immer zu vermitteln: Kommt mal raus aus eurer Gewohnheit! Probiert mal einen alternativen Lebensstil aus, es muss ja gar nicht im Zug sein.
Lasse, wir wünschen dir weiterhin gute Reise.
Über die Gesprächspartner
- Lasse Stolley lebt in Zügen und reist täglich durch Deutschland. Er arbeitet als Software-Entwickler.
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