• Im brasilianischen Serrana läuft ein einzigartiges Impfprojekt gegen Corona.
  • Am Beispiel der Kleinstadt im Bundesstaat São Paulo will Gouverneur João Doria demonstrieren, dass man auch anders und erfolgreicher mit der Pandemie umgehen kann, als Präsident Jair Bolsonaro das tut.
  • Beobachter glauben, Doria will sich mittels seiner Impfstrategie für den Präsidentschaftswahlkampf positionieren.

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In der brasilianischen Kleinstadt Serrana im Bundesstaat São Paulo läuft zurzeit ein einzigartiges medizinisches Experiment. Bis Mitte März sollen dort 30.000 der insgesamt 45.000 Einwohner in einer Massenimpfung gegen Corona immunisiert werden.

Die Forscherinnen und Forscher des renommierten Labors Butantan aus São Paulo erhoffen sich wichtige Erkenntnisse über die Verringerung von Übertragungsraten, Auswirkungen auf die Krankenhauseinweisungen, Todesfälle und den Zeitrahmen, wie lang es dauert, bis Herdenimmunität besteht.

Gleichzeitig liefert die Aktion Einblicke in entgegengesetzte politische Herangehensweisen in der Pandemie-Bekämpfung.

Bolsonaros Fehler in der Corona-Bekämpfung

Auf der einen Seite steht Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Von Beginn der Pandemie an verharmloste er die Gefährlichkeit des Erregers, unterlief bewusst Hygienemassgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO), steckte sich selbst an und hatte es schliesslich trotzdem nicht eilig, rechtzeitig für ausreichend Impfdosen zu sorgen. Die Folge: Inzwischen haben sich rund 10,6 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer mit SARS-CoV-2 angesteckt, mehr als 250.000 Menschen starben an COVID-19 (Stand 2. März).

Auf der anderen Seite steht der Gouverneur des Bundesstaats São Paulo, João Doria. Doria, politische beheimatet in der Zentrumspartei PSDB, mit der Bolsonaro im Bundesparlament paktiert, hatte von Anfang an in der Pandemie einen entgegengesetzten Weg eingeschlagen.

Von Beginn an riet er den 46 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Bundesstaats São Paulo, möglichst zu Hause zu bleiben und Kontakte zu vermeiden. Zudem sah man ihn in der Öffentlichkeit nur mit Mundschutz.

Damit nahm João Doria ganz bewusst den Gegenpart zu Präsident Bolsonaro ein. Als Regierungschef des einwohnerreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten Bundesstaats wollte er demonstrieren, dass man mit der Pandemie auch ganz anders - und vor allem erfolgreicher – begegnen könne.

Beobachter sehen darin einen indirekten Wahlkampf: Im Oktober 2022 wird in Brasilien ein neuer Präsident gewählt. Doria wolle sich als Gegenentwurf zu Bolsonaro für das konservativ-rechte Wählerlager inszenieren.

Chinesischer Impfstoff als Hoffnungsträger

So wundert es nicht, dass Doria bereits früh die Fühler nach einer Impfstofflösung ausstreckte. Als die Bundesregierung noch mauerte und verharmloste, kündigte er schon am 7. November den Impfbeginn im Bundesstaat São Paulo für den 25. Januar an.

Zu jenem Zeitpunkt hatte die Behörde Anvisa den chinesischen Impfstoff Coronavac der Firma Sinovac in Brasilien noch gar nicht zugelassen. Das Forschungsinstitut Butantan hatte aber bereits erste Wirksamkeitstests durchgeführt.

Die klinischen Untersuchungen bestätigten eine Wirksamkeit von 50,3 Prozent. Noch vor der Zulassung begann das Labor mit der Produktion. 40 Millionen der insgesamt benötigten 46 Millionen Dosen sollten in Brasilien hergestellt werden.

Das Institut Butantan war vor 120 Jahren als Folge auf eine Pockenepidemie entstanden. Weil das französische Pasteur-Institut mit dem Anti-Pest-Serum nicht schnell genug beikam, wurde ein eigenes Labor gegründet. Heute ist das biomedizinische Forschungszentrum eines der wichtigsten seiner Art und mit einer Produktionskapazität von 100 Millionen Dosen im Jahr der grösste Hersteller der südlichen Hemisphäre.

Einen Corona-Impfstoff im eigenen Bundesstaat zu produzieren, reichte São Paulos Gouverneur nicht: Doria bot den anderen 27 Bundesstaaten Brasiliens an, Impfstoffe für deren medizinisches Personal zur Verfügung zu stellen. Ein Erfolg auf nationaler Ebene: Elf Bundesstaaten meldeten Umgehend Interesse an.

Eduardo Pazuello, der dritte Gesundheitsminister seit Ausbruch der Pandemie, hätte auch gerne früh Impfstoff gekauft. Im Oktober hatte er angekündigt, 46 Millionen Dosen kaufen zu wollen. Doch Präsident Jair Bolsonaro pfiff ihn per Facebook zurück: Nicht, solange die Zulassungsbehörde nicht zugestimmt habe.

Regierung lehnte Impfstoff aus São Paulo ab

Dennoch bot Butantan auch der Bundesregierung den Impfstoff an. Insgesamt 140 Millionen Dosen – 40 Millionen noch im Jahr 2020, den Rest 2021. Drei Mal, nämlich im Juli, August und Oktober habe man den Gesundheitsminister angeschrieben, sagte Institutsdirektor Dimas Covas.

Doch der Minister habe die Angebote "ignoriert". Später musste Pazuello 230 Millionen Dosen ausländische Impfstoffe bestellen: den russischen Sputnik V und den indischen Covaxin. Für beide gibt es in Brasilien noch keine amtliche Zulassung.

Die Impffrage hat sich seit vergangenem Herbst zu einem regelrechten Schlagabtausch zwischen Bolsonaro und Doria entwickelt. Als Doria im Oktober ankündigte, die Impfung werde in São Paulo verpflichtend sein, konterte der Präsident noch am selben Tag. Wenn einer einen Impfstoff anbiete, dann sei dies das Gesundheitsamt – und zwar ohne Verpflichtung.

Der Oberste Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal), ebenfalls eine häufige Zielscheibe Bolsonaros unterstützte die Haltung Dorias. Er entschied, dann es Massnahmen geben könne, die Bevölkerung zu zwingen, jedoch nicht physisch. Legitim seien indirekte Sanktionen wie Verbote, bestimmte Orte zu besuchen oder Aktivitäten auszuführen. Die Reaktion Bolsonaros darauf: Die Regierung plane nicht, Massnahmen zu ergreifen.

In Serrana ist ungeachtet dessen die grösste Massenimpfung angelaufen. In der ersten Woche wurden im Rahmen des "Projekt S", so der wissenschaftliche Titel, bereits 21,8 Prozent der Bevölkerung erfolgreich versorgt. Bis Mitte März soll die Aktion abgeschlossen sein.

Der Ort war ausgewählt worden, nachdem dort bereits 1.600 Infektionen aktenkundig geworden waren (Inzidenzwert ca. 3.500) – 52 Personen starben – und das Virus begonnen hatte, sich immer schneller zu verbreiten.

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