- Am 14. März jährt sich der Mord an der brasilianischen Politikerin Marielle Franco zum fünften Mal.
- Franco hatte immer wieder Polizeiwillkür angeprangert.
- Verdächtige wurden bereits festgenommen, doch die Drahtzieher sind noch immer nicht gefasst. Spuren führen ins Umfeld von Ex-Präsident Jair Bolsonaro.
Der Mord an Marielle Franco ist im kollektiven Gedächtnis Brasiliens nach wie vor präsent, weil er in seiner Grausamkeit herausstach. Rückblick: Marielle Franco war am Abend des 14. März 2018 auf dem Weg nach Hause, als ihr Auto plötzlich im Stadtteil Estácio in Rio de Janeiro von einem anderen Fahrzeug ausgebremst und zum Anhalten gezwungen wurde. Mehrere Personen sprangen aus dem Fahrzeug und eröffneten das Feuer. Neun Schüsse fielen.
Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes waren auf der Stelle tot, praktisch auf offener Strasse hingerichtet. Bezeugt wurde der Ablauf von einer dritten Person im Auto, die wohl nur deshalb überlebte, weil der weisse Kleinwagen getönte Fensterscheiben hatte und die Angreifer Franco und ihren Fahrer alleine wähnten.
Wer die Polizei öffentlich kritisiert, lebt gefährlich
Marielle Franco hatte immer wieder öffentlich Polizeiwillkür angeprangert. Erst wenige Tage vor ihrem Tod hatte sie das in der Stadt auch als "Todesbrigade" bekannte 41. Bataillon der Militärpolizei beschuldigt, ohne Grund Kinder umgebracht zu haben. Der Mord galt als deutlicher Fingerzeig in Richtung von Menschenrechtsaktivisten wie Marielle Franco: Wer Sicherheitskräfte öffentlich an den Pranger stellt, lebt gefährlich.
Franco war nicht nur eine engagierte Lokalpolitikerin. Sie war zudem Schwarze, Lesbe, Feministin und stammte aus dem Favela-Komplex Maré. Damit verkörperte sie so ziemlich alles, was konservativen weissen Politikern in Rio und ganz Brasilien unbequem und lästig ist. Sie musste wohl sterben, weil sie mit ihrer Kritik den Mächtigen zu nahe gekommen war und allmählich gefährlich zu werden begann.
Im Zuge der Ermittlungen zu den Tätern rückten schnell drei Männer in den Blickpunkt: Ronnie Lessa, Élcio de Queiroz und Adriano Magalhães da Nóbrega.
Mordkommission und Staatsanwälte der Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro sammelten zahlreiche Beweise, um den Feldwebel Ronnie Lessa und den Gefreiten Élcio de Queiroz, beide ehemalige Mitglieder der Militärpolizei des Bundesstaates, wegen ihrer Beteiligung an der Ermordung der Stadträtin und ihres Fahrers anzuklagen.
Festnahmen gab es – doch wer gab den Auftrag?
Ein anderer Mann mit Nachnamen Queiros, Fabricio (nicht verwandt oder verschwägert mit Elcio), scheint ebenfalls verwickelt zu sein. Er gilt als langjähriger Freund der Familie Bolsonaro. Mit Vater Jair stand er bereits in den 1980er-Jahren in Verbindung, von 2000 an war er als Fahrer und Leibwächter für Sohn Flávio tätig. Queiroz wurde von der Polizei im Hinterland des Bundesstaats São Paulo verhaftet. Die Militärpolizei stöberte ihn in einem Haus auf, das dem Rechtsanwalt Frederick Wassef gehören soll.
Wassef ist kein Unbekannter. Er ging im Präsidentenpalast bei Bolsonaro in Brasília ein und aus, war bei vielen offiziellen Anlässen zugegen. Er ist der Leib-und-Magen-Anwalt des Bolsonaro-Clans.
Verbindungen zum Bolsonaro-Clan
Fabricio Queiroz weist ausserdem eine Verbindung zu Adriano Magalhães da Nóbrega auf. Letzterer ist der damalige Chef der berüchtigten Miliz Escritório do Crime (übersetzt: Büro des Verbrechens). Er war Offizier der Polizei-Sondereinheit BOPE, ehe er wegen Verbindungen zu der Miliz unehrenhaft entlassen wurde. Flávio Bolsonaro, erstgeborener Sohn des Präsidenten und Senator, hatte Nóbrega einst für eine Verdienstmedaille vorgeschlagen. Obendrein war Nóbregas Mutter im Abgeordnetenbüro von Flávio Bolsonaro angestellt und genoss anscheinend dessen besonderes Vertrauen. Sie soll sogar Prokura für das Abgeordnetenkonto gehabt haben soll.
Genau von diesem Konto war in der Vergangenheit Geld an Fabricio Queiroz überwiesen worden. Von Januar 2016 bis Januar 2017 insgesamt rund 1,2 Millionen Reais in kleinen Tranchen à 2000 Reais, wie das Magazin Istoé im Januar 2019 enthüllte.
Grundsätzlich scheinen die Milizen in den Augen von Flávio Bolsonaro nichts Schlimmes zu sein. "Eine Miliz ist nichts anderes als eine Gruppe von Polizisten, Militärs und anderen, die von einer gewissen Hierarchie und Disziplin geprägt ist und danach strebt, das Schlimmste aus dem Schoss der Gesellschaft zu tilgen: die Verbrecher", sagte er einmal in einer Rede.
Ein Verdächtiger starb bereits im Kugelhagel
Welche Rolle Nóbrega beim Mord an Marielle Franco gespielt hat, wird kaum noch zu ermitteln sein. Im Februar 2020 stürmten Spezialkräfte der Militärpolizei ein Landhaus in der Gemeinde Esplanada im Bundesstaat Bahia, in dem er sich versteckt hatte. Es habe ein Feuergefecht gegeben, hiess es in Medienberichten. Nóbrega wurde erschossen. Das Haus soll dem Lokalpolitiker Gilson Lima von der PSL gehört haben. Einem Mitglied jener Partei, als deren Kandidat Jair Bolsonaro 2018 in den Wahlkampf gezogen war.
Sergio Ramalho, Journalist aus Rio de Janeiro, der den Fall von Anfang an journalistisch begleitete, kennt sich mit den Milizen in Rio de Janeiro bestens aus. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über Nóbrega.
"Ich beschloss, die Geschichte zu schreiben, nachdem ich Zugang zu den geheimen Anhängen der Ermittlungen von Marielle Franco hatte", sagt Ramalho. "Aber meine Geschichte mit diesem Polizisten, der zum Auftragskiller wurde, ist älter. Im Jahr 2012, als ich bei der Zeitung O Globo arbeitete, habe ich eine Reihe von Berichten verfasst, die die Verbindungen zwischen Rios Glücksspiel-Bankern, den Bicheiros, und Mitgliedern internationaler krimineller Organisationen aufdeckten. Kurz darauf wurde ich vom Polizeichef Glaudiston Lessa, dem damaligen Inspektor der Zivilpolizei von Rio de Janeiro, über die Existenz eines Plans informiert, mich zu töten."
Ungereimtheiten bei den Ermittlungen von Anfang an
Die Untersuchung des Franco-Mordes war von Anfang an von einer Reihe von Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den direkt an den Ermittlungen beteiligten Akteuren - Polizei und Staatsanwaltschaft - geprägt. Man muss dabei bedenken, dass sich das Verbrechen in einem Jahr der Präsidentschaftswahlen ereignete, in dem der favorisierte Kandidat eines grossen Teils der Polizei, der Abgeordneten und in gewissem Masse auch der Justiz der ehemalige Hauptmann der Armee Jair Bolsonaro war. Ein rechtsextremer Politiker, der sich offen für die Beseitigung linker Politiker einsetzt.
Eine ganz heisse Spur versprach zunächst die Aussage des Portiers der Wohnanlage Bolsonaros in Rio de Janeiro. Ein in den Abendnachrichten exklusiv präsentierter Audiomitschnitt sollte den Portier wiedergeben, der am Vorabend des Mordes an der Gegensprechanlage Zugang zur Wohnanlage, genauer zum Haus Bolsonaros, gewährt haben soll. Fahrer des Wagens, der Einlass begehrte, soll Elcio Queiroz gewesen sein. Die Spur schien schon fast zu perfekt: Einer der Killer fährt vorher zu Bolsonaro nach Hause.
Gedacht ging die Geschichte dann für viele so weiter: Dort holte er sich den Arbeitsauftrag ab. Doch so einfach war die Sache nicht. Jair Bolsonaro konnte glaubhaft versichern, dass er sich zum fraglichen Zeitpunkt in Brasília aufgehalten hatte, es war parlamentarische Sitzungswoche. Er konnte also nicht zugegen. Doch: Wer dann? Wenige Tage später widerrief der Portier seine Aussage. Ferner soll der Wagen auch an Bolsonaros Haus vorbeigefahren sein, bis zur Hausnummer 66. Besitzer dort: Ein gewisser Ronnie Lessa.
Was machte Bolsonaros Sohn mit der Gegensprechanlage?
Sergio Ramalho machen all diese Ungereimtheiten skeptisch. "Ich würde wirklich gerne wissen, wo Carlos Bolsonaro in der Nacht war, als Marielle hingerichtet wurde", sagt er und erklärt warum: "Ich will niemanden beschuldigen, aber ich bin neugierig. Und ich erkläre Ihnen den Grund: Der Stadtrat nahm ein Gerät am Eingang der Wohnung mit, das für die Kommunikation zwischen dem Pförtner und der Wohnanlage verwendet wurde. Stunden vor dem Verbrechen war Élcio de Queiroz an der Pforte und hatte den Pförtner gebeten, Bolsonaros Haus anzurufen."
Eine weitere Kontroverse: Eine der zunächst mit den Ermittlungen beauftragten Staatsanwältinnen veröffentlichte in ihren sozialen Netzwerken Fotos, auf denen sie ein Hemd mit dem Gesicht Bolsonaros trug. Nachdem das Nachrichten-Portal Intercept Brasil das Bild veröffentlicht hatte, bat sie darum, von den Ermittlungen ausgeschlossen zu werden.
Die Ermittlungen in diesem Fall gingen langsam und schleppend, sogar sehr schleppend im Wahljahr. Erst nach der Wahl wurde mit dem Feldwebel der Militärpolizei, Ronnie Lessa, ein weiterer Verdächtiger verhaftet. Er war ein direkter Nachbar von Jair Bolsonaro und seinem Sohn, dem Stadtrat Carlos Bolsonaro, in der Wohnanlage Vivendas da Barra - einer sehr teuren und exklusiven Wohngegend, die mit dem Einkommen eines Unteroffiziers der Militärpolizei kaum vereinbar zu sein scheint.
Spur führt in den Dunstkreis der Milizen
Polizei und Staatsanwaltschaft argumentierten zwar stets, dass Lessa und Queiroz allein gehandelt hätten. Aus geheimen Unterlagen der Untersuchung geht jedoch hervor, dass Lessa in Zusammenarbeit mit anderen aktiven und ehemaligen Polizeibeamten handelte, die als Auftragskiller für das Büro des Verbrechens arbeiteten. "Ich hatte Zugang zu einem grossen Teil der Ermittlungen und den geheimen Anhängen, was es mir ermöglichte, eine Reihe von Berichten auf den Nachrichtenseiten Intercept und UOL zu veröffentlichen", sagt Ramalho.
In diesen Dokumenten beschreiben die an den Ermittlungen beteiligten Behörden, dass die Gruppe schon vor der Hinrichtung von Marielle Franco in organisierter Weise, mit festgelegten Funktionen und hochprofessionellen Methoden, ähnliche Taten begangen haben soll. Und immer gegen Bezahlung. Es handelte sich also um eine Gruppe von Auftragskillern.
Der Tod von Anderson Gomes, dem Fahrer, der die Stadträtin begleitete, war das, was das Militär gerne als Kollateralschaden bezeichnet. "Tatsache ist, dass die Staatsanwaltschaft mit ihrer Anklage gegen Lessa und Queiroz alles infrage stellt, was in den geheimen Anhängen der Ermittlungen steht", sagt Ramalho. Vor allem in Bezug auf die Verbindungen von Lessa in das Verbrechensbüro, das Escritório zu Crime. Ein enormer Widerspruch. Aus den geheimen Akten geht hervor, dass Lessa schon Monate vor dem gescheiterten Attentat auf Marcelo Diotti, der schliesslich in derselben Nacht wie Marielle Franco hingerichtet wurde, beteiligt gewesen sein soll.
Fall müsste an Bundesbehörden übergeben werden
Das Morddezernat und die Staatsanwaltschaft ignorierten jedoch diese Tatsache. "Und warum?", fragt sich Ramalho. Wirkliche Ergebnisse wird nur eine unabhängige und unparteiische Untersuchung liefern können. "Ich glaube nicht, dass dies geschehen wird, solange der Fall nicht föderalisiert wird." Er müsste also den lokalen Ermittlungsbehörden entzogen und an die Bundespolizei (PF) übertragen werden.
Das vom derzeitigen Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, Flávio Dino, vorgeschlagene Modell sieht eine Partnerschaft zwischen der Bundespolizei und der Mordkommission und Staatsanwaltschaft von Rio vor. "Meiner Meinung nach wurde die gesamte Untersuchung durch ideologische Fragen kontaminiert. Die Arbeit muss wieder aufgenommen werden, damit wir eines Tages wissen, wer den Mord an Marielle angeordnet hat", sagt Ramalho.
Steht Präsentation eines Verdächtigen kurz bevor?
Ramalho glaubt, dass nun der Zeitpunkt für die Aufklärung des Falles jedoch günstiger sein könnte. Jair Bolsonaro wurde vergangenen Herbst als Präsident abgewählt, hat also keinen direkten Einfluss mehr auf die Ermittlungsbehörden. Aber: der Bolsonarismus innerhalb der Polizei, des Parlaments und der Justiz ist weiterhin sehr stark.
"Ich höre oft von Quellen, von denen einige Anhänger Bolsonaros sind, dass der Fall in den nächsten Tagen eine Wendung nehmen wird und dass man aufgrund einer Aussage eines Informanten einen Bicheiro, einen Betreiber eines illegalen Glücksspiels aus Rio de Janeiro, als Drahtzieher beschuldigen wird", so Ramalho weiter.
Politiker leben in Brasilien gefährlich. Im Schnitt erleben 27 gewählte Volksvertreter nicht das Ende eines Jahres, haben die Organisationen Terra de Direitos und Justica Global herausgefunden. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Rede ist nicht von natürlichen Toden, Herzinfarkten, schweren Krankheiten oder Unfällen. Auch nicht eingeschlossen sind Mitglieder von NGOs, Umweltschützer oder Personen, die in Landkonflikten gewaltsam ums Leben kommen.
Die Toten, die die beiden Organisationen aufzählen, kommen allesamt gewaltsam ums Leben. Die Zahlen beziehen sich auf die Jahre 2016 bis 2020. In dieser Zeit gab es mindestens 125 Angriffe oder Attentate. Es gab zudem 327 Fälle von politischer Gewalt seit 2016. Eine der Toten ist Marielle Franco. Die Drahtzieher ihrer Ermordung sind bis heute auf freiem Fuss.
Verwendete Quellen:
- The Intercept: Gespräch mit Sergio Ramalho
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