Der Einsatz von Chemiewaffen in Syrien sowie beim Anschlag in London hat das lautlose Töten wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Es gibt historische Gründe, warum chemische und biologische Waffen geächtet sind: Die Menschheit kennt schliesslich zu viele grauenvolle Anwendungsbeispiele.

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Die industrielle Erzeugung chemischer Kampfstoffe ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Doch die Möglichkeit, chemische und auch biologische Reaktionen für massenhaftes Töten zu nutzen, kannte man schon in der Antike.

Im Jahr 256 nach Christus belagerte der Perserkönig Schapur I. die römische Grenzfestung Dura Europos. Weil seine Krieger die massiven Mauern nicht überwinden konnten, heckten die Angreifer einen teuflischen Plan aus.

In unterirdische Stollen, die römische Soldaten für ihre Ausfälle nutzten, leiteten die Perser Dämpfe von brennendem Pech und Schwefel - die Feinde verloren das Bewusstsein und erstickten.

Es ist möglich, dass es sich hier um den ersten grossangelegten "Chemiewaffeneinsatz" der Geschichte handelte.

Auch aus dem Peloponnesischen Krieg (431 bis 404 v.Chr.) gibt es Berichte über den Einsatz von Schwefeldioxid durch die Spartaner.

Und in der Schlacht bei Liegnitz (1241) sollen die Mongolen christliche Ritter mittels "dampfausstossender Kriegsmaschinen" in Schrecken versetzt haben.

Prof. Gerald Kirchner, Leiter des Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung an der Universität Hamburg, nennt im Gespräch mit unserer Redaktion noch ein historisches Beispiel der biologischen Kriegsführung, das allerdings nicht eindeutig belegt ist und deshalb unter Historiker Kontroversen hervorruft:

Als die Tataren im 14. Jahrhundert genuesische Besatzer von der Krim vertreiben wollten, sollen sie tote Ratten und Pestleichen über die Befestigungsmauern der Hafenstadt Kaffa (heute Feodossija) katapultiert haben - bald darauf brach dort die Pest aus.

Die Genuesen und Venezianer flüchteten auf Schiffen in die Heimat und sollen so den Schwarzen Tod nach Europa gebracht haben. Ab 1346 raffte die Pest-Pandemie in mehreren Wellen Millionen Menschen dahin - ein Drittel der Bevölkerung Europas erlag der Seuche.

Chemiewaffen in den Weltkriegen

In der Neuzeit werden keine tierischen Infektionsträger mehr benötigt, um den unsichtbaren Tod zu verbreiten.

Im Ersten Weltkrieg, genauer am 22. April 1915, begann die Geschichte des modernen Chemiewaffeneinsatzes mit tödlichen Folgen, als deutsche Truppen im belgischen Ypern Chlorgas gegen die französischen Soldaten einsetzten. Über 1.000 Franzosen starben, rund 3.000 wurden teils schwer verwundet.

Insgesamt sollen rund 100.000 Soldaten im Ersten Weltkrieg an Giftgas gestorben sein, etwa 1,2 Millionen wurden durch Chlor- und Senfgas zu Invaliden.

Industriell gefertigte und hochgiftige Stoffe verätzten die Lungen der Soldaten, zerfrassen die Netzhäute der Augen - Hunderttausende wurden zu Kriegsblinden oder litten Zeit ihres Lebens an weiteren furchtbaren Folgeschäden.

Auch zwischen den Weltkriegen wurden Chemiewaffen eingesetzt. In den Jahren 1935/36 etwa führte Italien seinen Kolonialkrieg in Abessinien (im heutigen Äthiopien) mithilfe von Senfgas.

Während im Zweiten Weltkrieg chemische Waffen, etwa Zyanidgas, nur von Japan im Kampf gegen China eingesetzt wurden, machte die Chemiewaffenforschung weiter grosse Fortschritte.

Tabun, Sarin und Soman wurden noch zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland entwickelt, kamen aber glücklicherweise im Krieg nicht zur Anwendung.

Es waren neue Waffen, weit giftiger als die Kampfstoffe aus dem Ersten Weltkrieg: 20 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht reichten mitunter bereits für eine tödliche Dosis.

Künstliche Gifte immer mörderischer

Chemiewaffen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder in kriegerischen Auseinandersetzungen eingesetzt. Ägypten etwa benutzte sie in den 60er-Jahren im Krieg gegen den Jemen.

Die USA versprühten in Vietnam das Entlaubungsmittel "Agent Orange", mit teils schweren gesundheitlichen Folgeschäden unter der Zivilbevölkerung sowie für die Soldaten beider Seiten.

Der Irak setzte im ersten Golfkrieg regelmässig Chemiewaffen ein: 50.000 iranische Soldaten verloren von 1980 bis 1988 durch irakisches Giftgas ihr Leben - vor allem durch Tabun, Sarin, Senfgas und mutmasslich auch das Horror-Gift VX.

Der Giftgasangriff auf das kurdische Halabdscha am 16. März 1988 mit 5.000 Toten ging auf grausame Weise in die Geschichte ein, die schockierenden Bilder der Opfer, darunter viele Frauen und Kinder, gingen um die Welt.

Und die künstlichen Substanzen werden immer mörderischer. Bereits 1952 wurde VX entwickelt - weitaus toxischer als alle vorher bekannten Kampfstoffe. Schon Hautkontakt lähmt die Atemmuskulatur und führt unter starken Krämpfen und Schmerzen innerhalb von wenigen Minuten zu einem furchtbaren Tod.

Im Februar 2017 wurde der Stiefbruder des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un in Malaysia mit VX getötet - die Attentäter hatten dem Opfer kurz mit einem giftgetränkten Tuch über das Gesicht gewischt.

Bemühungen Chemiewaffen zu vernichten

Noch giftiger ist Nowitschok: Die in Russland entwickelte Substanz wurde beim Anschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter in Grossbritannien verwendet.

Es handelt sich dabei um einen sogenannten binären Kampfstoff aus zwei Komponenten. Für sich allein sind die Substanzen harmlos, zusammen aber genügt ein einziger Tropfen auf der Haut, um einen Menschen zu töten.

Doch die Geschichte der Chemiewaffen sollte nicht ohne die Geschichte über den Kampf gegen diese Schreckenswaffen erzählt werden.

Schon in der Haager Landkriegsverordnung von 1899 wurden sie geächtet - was allerdings die Kontrahenten im Ersten Weltkrieg nicht sonderlich beeindruckte.

Im Genfer Protokoll von 1925 verpflichteten sich dann zahlreiche Staaten, auf den Einsatz von Chemiewaffen zu verzichten.

Den entscheidenden Fortschritt brachte die Chemiewaffenkonvention der Vereinten Nationen, die 1997 in Kraft trat. Sie verpflichtet alle teilnehmenden Staaten, ihre Chemiewaffen zu vernichten und keine neuen zu bauen. Gegenwärtig gilt das Übereinkommen für über 190 Staaten.

Die vereinbarte Zerstörung der Kampfstoff-Bestände zog sich über viele Jahre hin. Mittlerweile haben ausser Ägypten, Israel und Nordkorea alle Staaten die Konvention unterschrieben.

Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) kontrolliert die Einhaltung. Doch diese Kontrolle ist nicht lückenlos: Das zeigt sich an Syrien, wo Präsident Baschar al-Assad weiterhin Chemiewaffen einsetzen lässt - trotz syrischer Unterschrift unter der Konvention.

Terrorismus und chemische Kampfstoffe

Experte Prof. Gerald Kirchner ist denn auch skeptisch, was die gänzliche Beseitigung von Chemiewaffen betrifft. Eine Gefahr sieht er darin, dass Kampfstoffe in die Hände von Terroristen gelangen können.

1995 etwa verübte die fanatische Aum-Sekte einen Sarin-Anschlag auf die U-Bahn von Tokio. 13 Menschen starben, es gab Tausende Verletzte.

Ausserdem registriert Gerald Kirchner beunruhigt, dass die Hemmschwelle, solche Gifte herzustellen und sie auch einzusetzen, gesunken sei. Der Wissenschaftler warnt: "Wir müssen aufpassen, damit diese Grenze nicht weiter erodiert!"

Dass in Syrien Chemiewaffen eingesetzt wurden, ist eine grausame Ironie der Geschichte.

Die eingangs erwähnte Festung Dura Europos, in der die chemische Kriegsführung sozusagen "erfunden" wurde, lag am Euphrat – im heutigen Syrien, kurz vor der Grenze zum Irak.

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