Experten schätzen, dass in Deutschland bis zu 20 kriminelle Grossfamilien mit mehreren Tausend Mitgliedern ihr Unwesen treiben. Lange schien es, als ob den Clans schwer beizukommen sei. Sie haben Geld, Anwälte - und enge verwandtschaftliche Beziehungen schützen die Täter. Doch spätestens seit die Coups der Clans immer dreister werden, will der Staat härter durchgreifen.
Es ist ein trüber Tag, dieser 15. Januar, an dem in Berlin ein 42-jähriger Mann zum ersten Mal verurteilt wird. Etliche Verfahren gegen ihn waren eingestellt worden.
Jetzt erhält er eine geringe Strafe: zehn Monate Gefängnis auf Bewährung, weil er einen Hausmeister angegriffen hatte. Eigentlich könnte er nach Hause gehen.
Doch dann sorgt dieser Prozesstag bundesweit für Aufsehen. Denn Polizisten und eine Staatsanwältin verhaften den Mann wegen eines anderen Verdachts.
Es geht um eine angeblich geplante Entführung von Kindern des Rappers
Für Oberstaatsanwältin Petra Leister und die Polizei ist es ein Tag des Triumphs. Was passiert war, schien lange Zeit kaum denkbar: ein spektakulärer Schlag gegen die Clan-Kriminalität. Denn der Inhaftierte ist nicht irgendwer.
Er gilt als einer der Chefs der arabischstämmigen Grossfamilie Abou-Chaker. Längst nicht alle Mitglieder sind kriminell, aber es gibt verurteilte Mehrfachtäter.
Der Clan-Boss wurde an diesem grauen Dienstag abgeführt, weil er hinter dem angeblichen Plan zur Kindesentführung stecken soll.
Eine Anfrage der dpa an seinen Anwalt blieb unbeantwortet. Bushido, 40 und erfolgreicher Musiker mit tunesischen Wurzeln, war sein langjähriger Geschäftspartner, wie er berichtet hat. Dann kam es zum Bruch, der Rapper rechnete 2018 in einem Lied und Interviews mit ihm ab.
Clans seit Jahrzehnten in Deutschland aktiv
Über Jahrzehnte hatten Clans ihre Macht in der Hauptstadt ausgebaut und eine Parallelwelt geschaffen, in der Männer mit teuren Uhren, Goldketten und Luxusautos respektiert werden - die staatlichen Gesetze aber weniger.
Schwerpunkte sind die Stadtteile Neukölln, Wedding, Moabit und Kreuzberg. Die Behörden gehen davon aus, dass viele Gelder aus illegalen Geschäften stammen.
Politik, Polizei und Justiz geben inzwischen zu, folgenschwere Fehler gemacht zu haben - und dass eine misslungene Integrationspolitik den Aufstieg der Clans begünstigte.
Viele kurdisch-arabische Flüchtlinge aus dem Libanon durften in Deutschland lange nicht arbeiten. Sie erhielten Sozialhilfe. Kriminalität wurde daneben zu einer Haupteinnahmequelle: Diebstahl, Drogenhandel, Schutzgelderpressung und illegales Glücksspiel.
Auch die Struktur der Familien, deren Mitglieder meist untereinander heirateten, erschwert bis heute vieles: die Integration ebenso wie die Aufklärungsarbeit. "Die Grossfamilie ist alles und der Rest ist nichts", schreibt Islamwissenschaftler Mathias Rohe.
Coups der Clans immer dreister
Die Neuköllner Grundschuldirektorin Astrid-Sabine Busse hat mit dem "Nachwuchs der grossen Familien und auch der grossen Namen" zu tun.
Sie meint, bei vielen fehle der Wille zur Integration und zum Arbeiten. "Wenn der Papi nach Hause kommt, von seiner langen Reise in den Libanon und dann liegt der Geldhaufen auf dem Tisch und dann zählen wir, das ist doch schön", sagte die resolute Frau bei einer Anhörung im Herbst 2018 ironisch.
Für Polizei und Gerichte hiess das lange: Mit herkömmlichen Methoden kommen sie nicht ran an die Strippenzieher im Inneren der Familien.
Dann kippte etwas. Immer dreister waren die Coups geworden, die den oft kurdisch-libanesischen Familien zugerechnet werden.
Überfall auf die Schmuckabteilung im KaDeWe (2014) und Juweliergeschäfte, Sparkassen-Einbruch mit einer Beute von mehr als neun Millionen (2014).
Einbruch ins Bode-Museum und Diebstahl einer 100 Kilo schweren Goldmünze (2017), Überfall auf einen Geldtransporter (2018). Es gab grosse Berichte, die Politik kam unter Druck.
Jetzt wird Entschlossenheit demonstriert - in Berlin und andernorts. Der rot-rot-grüne Senat hat einen Fünf-Punkte-Plan gegen Clan-Kriminalität entwickelt.
Die Generalstaatsanwaltschaft stellt neue Leute ein für die Suche nach illegalem Vermögen. Das Landeskriminalamt baut ein Zentrum zum Kampf gegen illegale Strukturen auf.
Der Konsens: Die Kriminellen müssen dort getroffen werden, wo es richtig weh tut - beim Geld.
Wie Berlin vorgeht, wird auch in anderen Bundesländern mit Interesse verfolgt. Bei der bislang grössten Clan-Razzia in Nordrhein-Westfalen habe man auch auf Erfahrungen aus der Hauptstadt gebaut, wissen Juristen.
Bis zu 20 Clans mit mehreren Tausend Mitgliedern
Zwischen zwölf und 20 Clans mit mehreren Tausend Mitgliedern sollen in Deutschland agieren, etwa im Ruhrgebiet, in Niedersachsen und Bremen.
Die Polizei nennt in der Regel nur Nachnamen: wie Remmo, Miri, Al-Zein oder Abou-Chaker. Beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden soll erstmals im sogenannten Lagebild zur Organisierten Kriminalität ein Kapitel "Kriminelle Mitglieder von Grossfamilien ethnisch abgeschotteter Subkulturen" erstellt werden.
"Wir haben sie viel zu lange in Ruhe gelassen, es wurde zu wenig Unruhe geschaffen in einer Szene, die machen konnte, was sie wollte", sagt der Berliner Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra.
"Seit Jahren beobachten wir die gleichen arabischen Grossfamilien, die Probleme machen." In Berlin seien es acht bis zehn Clans, von denen einige Mitglieder kriminell sind. Der Schwachpunkt sei das Geld, sagt Kamstra. Entscheidend sei die Frage: "Wie können wir deren Lebensstil, diese Protzerei vereiteln?"
Eine Gesetzesreform hilft den Ermittlern an diesem Punkt: Seit dem 1. Juli 2017 kann der Staat vorläufig und unter bestimmten Bedingungen Vermögen bereits einziehen, wenn die Herkunft unklar ist. Früher musste erst bewiesen werden, dass das Geld aus Verbrechen stammte.
So folgte die erste deutliche Kampfansage an die stadtweit bekannte Berliner Clanfamilie Remmo: 77 Häuser und Wohnungen im Wert von neun Millionen Euro wurden im Sommer 2018 beschlagnahmt.
Konten, Konten und wieder Konten sowie Grundbücher wurden gecheckt, bis sich aus dem Riesenpuzzle ein Bild formte, wie Staatsanwälte berichten.
Problem: Clan-Angehörige "verpfeifen" sich nicht
Das Geldwäsche-Verfahren richtet sich gegen 16 Mitglieder der Familie. Hatten sie sich zu sicher gefühlt? Auf die Spur des Geldes kam die Polizei, weil auffiel, dass ein Mitglied, das von Hartz IV und Kindergeld lebte, Wohnungen und Grundstücke kaufte.
Vermutet wird, dass dabei grosse Beträge aus dem Millionen-Sparkasseneinbruch von 2014 in den legalen Wirtschaftskreislauf gebracht werden sollten. Doch wie die Ermittlungen ausgehen, ob jemand ins Gefängnis wandert, ist offen.
Ein Problem bei der Suche nach Beweisen ist, dass Angehörige der Clans sich nicht verpfeifen. Selbst dann nicht, wenn sie nicht selbst Teil der kriminellen Strukturen sind. Wer mit dem Staat kooperiert, gilt als Verräter und verliert leicht die gesamte Familie.
Das juristische Tauziehen könnte hier also noch Jahre dauern, ist zu hören. Und keiner weiss, ob die Beschlagnahme der Immobilien, die jetzt unter Zwangsverwaltung des Staates stehen, Bestand haben wird.
Seit dem neuen Gesetz haben Berliner Gerichte angeordnet, Werte von mindestens 109 Millionen aus illegalem oder unklarem Vermögen einzuziehen, so berichten die Staatsanwälte.
Darunter sind Autos, Bargeld, Häuser. Dass der Verlust eines Statussymbols junge Männer an einem heiklen Punkt trifft, davon geht Staatsanwältin Leister aus: "Ohne Rolex-Uhr und teures Auto möchte man ungern das Haus verlassen. Bahnfahren ist ohnehin sehr uncool."
Grinsend auf der Anklagebank
Wie manche der Grossfamilien ihre Abschottung von der Gesellschaft leben und wie schwer es ist, sie juristisch zu packen, lässt sich im Strafgericht in Moabit besichtigen.
Immer wieder sitzen dort kriminelle Clan-Mitglieder auf der Anklagebank. Meist geben sie sich unbeeindruckt von Richtern und Ermittlern. An ihrer Seite: mehrere Verteidiger aus teuren Kanzleien, die sie häufig rauspauken.
Bei den verhandelten Delikten geht es quer durch das Gesetzbuch - von Diebstahl bis Mord. Derzeit läuft am Landgericht etwa der Prozess gegen zwei Brüder und einen Cousin aus der Familie Remmo wegen des Diebstahls der Zwei-Zentner-Goldmünze mit Millionenwert.
Zu den Verhandlungen kommen die Angeklagten von zu Hause, in U-Haft sassen sie nicht lange. Sie geben sich entspannt. Bart und Haare akkurat geschnitten, lauschen sie den Ausführungen. Bis auf den gelegentlichen Anflug eines Grinsens geben die jungen Männer wenig zu erkennen und schweigen.
Der Stadtbezirk Neukölln gilt als Brennpunkt - sowohl bei sozialen Problemen als auch bei der Clan-Kriminalität. Etwa 330.000 Einwohner leben hier. Zehn Prozent sind arabischstämmig, ein grosser Teil hat inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit.
Bezirksbürgermeister Martin Hikel ist 32 Jahre alt und noch nicht lange im Amt. "Der illegale Weg muss immer steinig sein, und der Staat muss derjenige sein, der genau die Steine in diesen Weg reinlegt", sagt Hikel, der schon durch seine Grösse von 2,06 Meter auffällt.
Er präsentiert eine lange Liste mit dem, was wirken kann: Wachschutz vor Schulen, Kontrollen in Shisha-Bars, Schulpflicht durchsetzen, spezielle Staatsanwälte. "Das klingt erstmal nach Nadelstichen, aber ich kann es sagen: Es lohnt sich. Und es nervt die entsprechenden Menschen."
Bushido vs. Abou-Chaker - Ausgang offen
Wie Rapper Bushido die Auseinandersetzung mit seinem früheren Clan-Freund klärt, ist offen. Der Musiker hatten im September 2018 in einem Interview des Magazins "Stern" gesagt: "Falls mir etwas passieren sollte, ist für meine Frau und meine Kinder gesorgt." Zudem sprach er über Kontakte zu einem Mitglied einer anderen Grossfamilie.
Einen Rückschlag mussten Polizei und Staatsanwaltschaft am 31. Januar hinnehmen. Ein Richter hob den Haftbefehl gegen den Clan-Chef der Abou-Chakers auf, zwei Wochen nach dem er noch im Gericht abgeführt worden war.
Ganz so dringend tatverdächtig scheint er nicht mehr zu sein. Der Verdächtige verliess das Untersuchungsgefängnis. Die Ermittlungen gehen weiter - wie so oft. © dpa
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.