Italien ist das am stärksten vom Coronavirus betroffene Land in Europa. Die Regierung erklärte es zur Schutzzone, die Menschen sollen ihr Zuhause nur verlassen, wenn sie zur Arbeit müssen. Das Land steht still, die Kliniken stöhnen unter dem Ansturm der COVID-19-Erkrankten. Ein Wissenschaftler in Mailand behält einen kühlen Kopf und analysiert die Lage.

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Die meisten Sorgen macht sich Francesco Giavazzi um seine beiden Töchter, die in der Schweiz und in Paris leben. "Frankreich tut zu wenig gegen die Ansteckungsgefahr", meint der Wirtschaftswissenschaftler, die Metro in Paris sei immer noch voller Menschen, das sei gefährlich. In Italien müsse man derzeit einfach die Nerven behalten, zu Hause bleiben und die Gelegenheit nutzen: "Es ist eine gute Zeit zum Lesen." Da auch Giavazzi sein Haus nur noch aus besondere Gründen verlassen darf und seine Universität geschlossen ist, hat er nun viel Zeit für Lektüre.

Die wirtschaftliche Situation seines Landes beurteilt der Experte im Gespräch mit unserer Redaktion optimistisch, obwohl mittlerweile ganz Italien zur Sperrzone erklärt wurde: "Wir haben es schwerer als andere Länder", meint Giavazzi, "aber wir werden uns schnell von der Krise erholen".

Warum Italien so heftig von der Corona-Welle getroffen wird, ist nach wie vor ungeklärt. Möglich ist, dass die hohen Infektionszahlen zustande kommen, weil das Land grossflächig auch Menschen testet, die noch gar keine Krankheitssymptome zeigen.

Es kann gut sein, dass die italienischen Erfahrungen dabei helfen, die Verbreitung des Coronavirus in anderen Ländern frühzeitig einzudämmen. Sein Land sei "ein Labor für andere Nationen", erklärte der italienische Hygiene-Professor Paolo Bonanni unlängst dem "Stern".

Der Tourismus ist am schwersten betroffen

"Italien ist auf vielen Ebenen gut vorbereitet", sagt Giavazzi. Er lobt unter anderem das "sehr gute" italienische Gesundheitssystem und die Universitäten des Landes, von denen die meisten problemlos in der Lage seien, den Unterricht im Internet fortzuführen. Seine eigenen Studenten an der Mailänder Bocconi-Universität betreut Giavazzi per Video-Konferenz, wenn es sich um kleinere Gruppen handelt. Vorlesungen für eine grössere Zahl von Studenten stellt er zum Download ins Netz.

Gleichzeitig betont Giavazzi aber, dass Italien wirtschaftlich schwerer und anders betroffen sei als etwa Deutschland. "13 Prozent unseres Bruttoinlandproduktes (BIP) erwirtschaften wir durch den Tourismus", gibt er zu bedenken – und da sei der Flugverkehr noch nicht einmal mitgerechnet. Gleichzeitig fürchtet er, dass die Touristen nicht sofort nach Ende der Krise zurückkommen.

Ebenso problematisch sei die Wirtschaftsstruktur Italiens. Europaweit tragen kleine Firmen mit weniger als 20 Mitarbeitern deutlich weniger zur Wirtschaftsleistung bei als grössere Unternehmen. Doch in Italien gibt es deutlich mehr solcher Kleinbetriebe als etwa in Deutschland. So zerfällt die italienische Ökonomie in zwei Teile, von denen die eine – etwa im Maschinenbau oder der Pharmazie – sehr erfolgreich sei, während die andere mit niedrigen Erträgen das Gesamtergebnis drücke. "Deshalb haben wir seit vielen Jahren zu wenig Wirtschaftswachstum", so Giavazzi. Im Vergleich zum jeweiligen Vorjahr wuchs das italienische BIP seit 2001 nicht mehr stärker als um 1,77 Prozent, 2019 lag das Wachstum bei null Prozent.

Lob für das Krisenmanagement

Wirtschaftsnationen mit wenig Wachstum wie Italien sind stärker von einer Rezession bedroht als andere. Trotzdem ist Giavazzi zufrieden mit dem Krisenmanagement der italienischen Regierung.

Giuseppe Conte, den er bisher wenig geschätzt habe, zeige sich in der Viruskrise als starker Premier und habe vernünftige Massnahmen ergriffen – die Menschen vertrauten ihm. Giavazzi hebt hervor, dass die italienische Regierung ähnlich wie die deutsche die Menschen unterstütze, die wegen der Krise in finanzielle Nöte geraten – etwa durch den Ausbau der Arbeitslosenversicherung. "Es darf nicht dazu kommen, dass der Konsum rapide sinkt, weil die Leute kein Geld mehr haben" – denn das würde nach dem Ende der Krise die Konjunktur vollends abwürgen.

Auch für die "kleinen Selbständigen", die keine Versicherung haben, werde die Regierung aktiv. Das, so Giavazzi, sei nicht nur für die Wirtschaft wichtig, sondern auch für die Eindämmung des Coronavirus: "Die Leute bleiben nicht zu Hause, wenn sie fürchten, kein Geld mehr zu bekommen."

Pro-europäische Haltung in der Bevölkerung legt zu

Gut kommt beim Wirtschaftswissenschaftler auch an, dass die EU sich solidarisch zeigt. Italien hat wegen seines anhaltenden Haushaltsdefizits und zu grosser Neuverschuldung eine angespannte Beziehung zur EU. Jetzt aber habe Brüssel eingelenkt und eine höhere Verschuldung wegen der Krise akzeptiert. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, habe eine ähnliche Verlautbarung angekündigt.

Und sogar Valdis Dombrovskis, Vizepräsident und Kommissar für Wirtschaft in der Europäischen Kommission, habe sich gewandelt: "Er hat uns immer sehr hart kritisiert – aber nun hat er gesagt, dass er auf der Seite Italiens steht." Die EU, so Giavazzis Resümee, verstehe die Situation, "und sie zeigt uns so, dass Italien nicht allein ist".

Der Rückhalt in der EU sei wichtig, meint Giavazzi, weil er die Finanzierung von Hilfsmassnahmen sicherstelle und die Märkte beruhige. Nebenbei bewirke er aber auch eine pro-europäische Haltung in der Bevölkerung: "Die Stimmung in Italien war in jüngster Zeit oft sehr europakritisch – jetzt könnte sie wieder zugunsten der EU umschlagen." Sogar die rechte Lega-Partei habe diesbezüglich ihre Haltung geändert.

Corona bewirkt eine grosse Krise in Italien, da stimmt Giavazzi zu. Aber er hebt auch die positiven Nebenwirkungen hervor und ist sich sicher: "Unserer Wirtschaft ist schwächer als andere, aber stark genug, um die Krise zu überstehen."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Francesco Giavazzi, Bocconi-Universität Mailand.
  • Statista.com: Italien: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1980 bis 2018 und Prognosen bis 2024
  • "Stern": Tausende Corona-Infizierte: Warum das Virus in Italien stärker grassiert als anderswo in Europa.
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