In Übersee wird sie als die "Nicht-Unfugs-Kanzlerin" gefeiert, in Europa hagelt es aber immer wieder Kritik für mangelnde Solidarität. Wie führt uns Kanzlerin Angela Merkel durch die Coronakrise? Die Politikwissenschaftler Susanne Pickel und Nicolai Dose analysieren den Führungsstil der Regierungschefin und warnen vor Fehlern, die sie jetzt nicht machen darf.

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Willy Brandt tat es nach dem Kniefall in Warschau, Helmut Schmidt im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung, Helmut Kohl zur Währungsunion und Gerhard Schröder anlässlich des Irak-Kriegs. Sie aber hat es abseits der Neujahrsansprache noch nie getan: In der Coronakrise hat sich Kanzlerin Angela Merkel erstmals per Fernsehansprache an die Deutschen gewandt. Nie hat sie in der Krisenkommunikation diesen Weg gewählt - dabei hätte sie mit ihrer atompolitischen 180-Grad-Wende oder während der Flüchtlingskrise Anlässe genug gehabt. Wählt Merkel in Zeiten von Corona auch als Krisenmanagerin neue Wege?

"Sie tritt deutlich offensiver auf", beobachtet Politikwissenschaftler Nicolai Dose von der Universität Duisburg-Essen. Kollegin Susanne Pickel schliesst sich an: "Wenn Merkel sagt, die Lage sei ernst, ist jedem klar, dass dem so ist." Sie habe mit Emotionen gebrochen, die gerade in Zeiten populistischer Parteien an der Tagesordnung seien. "Als Physikerin weiss Merkel exponentielle Kurven zu deuten, spricht in Fakten und wählt ihre Worte und Redeanlässe mit Bedacht", sagt Pickel. In den USA hat die "New York Times" dafür einen eigenen Begriff für Merkel gefunden: Sie ist die 'no-nonsense chancellor' - die Nicht-Unfugs-Kanzlerin.

Geschickte Wortwahl der Kanzlerin

Die ergriffenen Massnahmen der Regierung – von Schulschliessungen über Veranstaltungsabsagen bis hin zu Grenzkontrollen – hält Politikwissenschaftlerin Pickel für sinnvoll und angemessen. "Besonders geschickt war es, von Ausgangsbegrenzung und nicht von einer Sperre zu sprechen", sagt sie. Denn Sperren würden in der Bevölkerung mit Restriktion und Autokratie verbunden.

"Andere Staaten in Europa haben Ausnahmezustände, etwa nach Terroranschlägen, im Anschluss in die normale Gesetzgebung überführt – durch ihre Wortwahl macht Merkel aber deutlich, dass sie zivile Freiheit und Demokratie aufrechterhalten will", erklärt die Expertin. Auch der Zeitpunkt, zu dem sich Merkel für die Rede an die Nation entschied, sei gut gewählt gewesen: "Da sah es gerade so aus, als würde sie das Krisenmanagement Gesundheitsminister Jens Spahn oder Bayerns Ministerpräsident Markus Söder überlassen", so Pickel.

Vermittlungskompetenz macht sich bezahlt

Auch Experte Dose stellt Merkel ein positives Zeugnis aus, lobt besonders ihre Vermittlungskompetenz: "Es ist ihr gelungen, zwischen den Ministerpräsidenten zu vermitteln, die zum Teil unterschiedliche Ansätze verfolgt haben und weiterhin verfolgen", merkt er an. Während Söders Bayern stärker betroffen sei und dieser deshalb zu Eile mahne, stehe in Nordrhein-Westfalen Armin Laschet angesichts seiner Ambitionen auf den Parteivorsitz unter Profilierungsdruck.

"Eine weitgehende Einheitlichkeit konnte aber hergestellt werden, Merkels Politikansatz ist auf Ausgleich und Kompromissfindung bedacht", sagt Dose. Der Experte glaubt jedoch: "Merkel kann nur so besonnen agieren, weil beispielsweise Spahn und Söder das etwas toughere Auftreten übernehmen."

Volksnah, transparent, besonnen

Damit erziele die Kanzlerin eine grosse Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung: Im "ZDF-Politbarometer" halten 75 Prozent der Deutschen die Massnahmen für "gerade richtig", 20 Prozent finden, sie "müssten härter ausfallen", nur vier Prozent halten sie für "übertrieben".

Expertin Pickel erklärt: "Die Menschen sehen, was in Italien passiert, und haben Angst." Merkels ruhiger und besonnener Führungsstil mache sich deshalb jetzt bezahlt: "Sie agiert transparent und erklärt die Massnahmen, redet ausserdem nicht um den heissen Brei herum", beobachtet die Politikwissenschaftlerin.

Volksnah gab sich die Kanzlerin, als sie trotz Corona-Pandemie eigens in einem Berliner Supermarkt einkaufte und dabei denselben blauen Hosenanzug wie bei ihrer Fernsehansprache trug. Als Kümmerin rief sie in ihrem Wahlkreis bei der Feuerwehreinsatztruppe an, die sich in freiwillige Quarantäne begeben hatte. Und auch Vorbild will Merkel sein: "Sie hat sich selbst in Quarantäne begeben und demonstriert damit, dass sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse ernst nimmt", sagt Pickel.

Die Expertin übt aber auch Kritik: "Die Kanzlerin sollte sich zu einer Maskenpflicht wie in Österreich durchringen." Das Argument, es gäbe nicht ausreichend OP-Masken, sei nicht einleuchtend. "Eine selbstgenähte Maske oder ein Schal wären ein Anfang", findet Pickel.

Besseres Zeugnis als Amtskollegen

Was die Deutschen an ihrer Kanzlerin haben, zeige sich vor allem beim Blick ins Ausland. "Populisten wie Bolsonaro, Trump und Johnson wollen jetzt vor allem ihre politischen Ideen nach vorne bringen und Stärke demonstrieren", beobachtet Expertin Pickel. Aber auch im Vergleich zu Macron schneidet Merkel in ihren Augen besser ab: "Macron hat sich gleich martialischer Rhetorik bedient und von einem Krieg gesprochen, in den die Grand-Nation ziehen muss. Dieses Pathos braucht Merkel nicht."

Experte Dose ergänzt: "Im Vergleich zu den Populisten unter den genannten Regierungschefs hat Merkel viel früher die Dringlichkeit von Massnahmen erkannt und entsprechend gehandelt." Der deutschen Bevölkerung habe sie schnell klargemacht: Das exponentielle Wachstum der Fallzahlen lässt sich nur durchbrechen, wenn die Verdoppelung der Infiziertenzahlen erst nach zehn Tagen erfolgt.

Bei allem Lob für die Kanzlerin erinnert er: "Man sollte auch die Bevölkerung nicht unterschätzen." Der grösste Teil sei einsichtig, für den kleinen uneinsichtigen Teil gäbe es Kontrollen und gravierende Sanktionen und auch die Fachminister hätten ihren Teil der Arbeit erledigt.

Kritik auf europäischer Ebene

Aber nicht alle in Europa stellen Merkel ein solch positives Zeugnis aus. Zwar schreibt der italienische Journalist Roberto Brunelli in der "Zeit": "Uns beeindruckt Merkels Mischung aus Mitgefühl und Vernunft", doch in Italien wisse man auch von einer anderen Merkel – der "kühlen Eurokrisen-Managerin, der Pedantin, die uns südlichen EU-Staaten immer wieder mitgibt, wir sollten doch endlich unsere 'Hausaufgaben' machen". Rom, Madrid und Paris vermissten die Solidarität des reichsten europäischen Partners. "Es ist wieder da, das altbekannte Schema, Norden gegen Süden, Deutschland, Österreich und die Niederländer gegen die 'faulen' Südeuropäer", sagt der Italiener weiter. Damit spielt Brunelli vor allem auf die Euro-Bonds an, gegen die sich Deutschland, Österreich und die Niederlande in der Corona-Pandemie aussprechen.

Expertin Pickel glaubt jedoch nicht, dass Merkel in Europa ein anderes Gesicht zeigt. "Sie ist von diesem politischen Instrument einfach nicht überzeugt. Sie wird im Hintergrund andere Hilfen suchen", ist sich die Wissenschaftlerin sicher. Als symbolischer Akt seien bereits italienische Patienten auf deutsche Kliniken verteilt worden. Auch Dose sagt: "Bei den Euro-Bonds geht es um wirtschaftliche Interessen Deutschlands, weshalb sie in dieser Frage anders auftritt als im Inneren."

Fehler nach der Krise

Insgesamt also: Ein positives Zeugnis für die Kanzlerin als Krisenmanagerin. Wird das so bleiben, auch nach der Corona-Pandemie? "Es wäre ein Fehler, wenn sie jetzt ihren Stil verändert und hektisch wird", mahnt Pickel. Sie solle sich in der Beurteilung nicht von der Wissenschaft lösen. "Nicht die Virologen regieren uns, es ist immer noch die Politik. Diesen Eindruck muss Merkel weiterhin erwecken", stellt Pickel klar.

Um dauerhaft Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten, müsse Merkel ausserdem alles daransetzen, dass die Gesellschaft nicht gespalten aus der Coronakrise hervorgeht. "Es gibt grosse Zeugnisse von zivilgesellschaftlichem Engagement. Diejenigen, die uns jetzt helfen, müssen später eine Belohnung erhalten, die nicht nur aus Beifall besteht, sondern sich auch in Geld messen lässt", fordert Pickel.

Über die Experten:
Prof. Dr. Susanne Pickel studierte Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Sie hat eine Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen inne.
Prof. Dr. Nicolai Dose studierte Verwaltungswissenschaft und Politische Wissenschaft an der Universität Konstanz und an der Graduate School of Rutgers University (USA). An der Universität Duisburg-Essen ist er Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, ausserdem ist er Geschäftsführender Direktor des Rhein-Ruhr-Instituts für Sozialforschung und Politikberatung.

Verwendete Quellen:

  • "No-Nonsense-Chancellor" in der New York Times
  • ZDF- Politbarometer zur Akzeptanz der Massnahmen
  • Bild.de: Merkel im Supermarkt in Berlin:
  • zeit.de: Die zwei Angela Merkels
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