Jüdische Jugendliche besuchen Schweizer Schulklassen, um Fragen zum Judentum zu beantworten und damit Antisemitismus entgegenzuwirken. Das Dialogprojekt "Likrat" ist so erfolgreich, dass andere Länder es kopieren.
Hinwil im Zürcher Oberland: Die meisten Jugendlichen hier haben noch nie einen Juden gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen. Jüdische Gemeinden gibt es in dieser ländlichen Gegend seit Jahren keine mehr.
Die Jugendlichen strömen in ein Klassenzimmer mit kreisförmig angeordneten Stühlen. Darauf sitzen zwei junge, modern gekleidete Frauen mit langen, braunen Haaren. Die eine frischt sich noch schnell die Wimpertusche auf.
In solchen Momenten kann es vorkommen, dass ein Schüler schreit: "Wo ist denn der Jude?" Und Liora – eine der beiden hübschen Frauen – antwortet: "Ich bin der Jude."
Vorurteile abbauen, bevor Antisemitismus entsteht
Solche Szenen einer "Likrat"-Begegnung hält ein Dokumentarfilm der Grimme-Preisträgerin Britta Wauer fest.
"Likrat" ist ein Dialogprojekt des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), das seit 2002 in der Deutschschweiz und seit 2015 in der Romandie durchgeführt wird.
Jeweils zwei jüdische Jugendliche gehen an Schulen und beantworten Fragen zum Judentum – jährlich kommt es zu rund hundert solchen Treffen in der Schweiz.
Damit sollen Vorurteile abgebaut werden, bevor Antisemitismus entstehen kann. "Vor rund zwanzig Jahren war die jüdische Gemeinschaft der Schweiz mit verschiedenen Ereignissen konfrontiert, die alte Vorurteile gegen Juden teilweise wieder verstärkt salonfähig machten", erklärt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, zur Entstehungsgeschichte des Dialogprojekts.
Keine Tabuthemen
Mit einer Kollegin beantwortet Liora den Jugendlichen Fragen zum Leben als Jüdin. Alle Fragen sind erlaubt. "Es gibt keine Tabuthemen", sagt Liora. "Hat euer Vater Locken?", will beispielsweise ein Mädchen wissen.
"In der Regel stellen Kinder und Jugendliche ganz alltägliche Fragen, so nach Kleidung, Liebe oder Essensvorschriften", sagt Kreutner. "Manchmal wird es unter Umständen auch etwas kontroverser, wenn es zum Beispiel um ein typisch jüdisches Äusseres geht. Diese Fragen sind aber auch normal und von Hass weit entfernt."
Ein Erfolgsmodell – auch für andere Länder
"Likrat" ist in der Schweiz ein voller Erfolg. Deshalb findet es inzwischen auch in Deutschland, Österreich und Moldawien statt. Laut Kreutner werden weitere Länder folgen. "Ein Dialog-Projekt 'made in Switzerland' wird somit in die Welt getragen. Das freut uns natürlich sehr."
Besonders Deutschland ist in den letzten Monaten wegen Antisemitismus und religiösem Mobbing an Schulen in die Schlagzeilen geraten. Dass die Täter häufig Kinder türkischer oder arabischer Eltern waren, entfachte eine Debatte über muslimischen Antisemitismus und Migrationspolitik.
Gibt es auch in der Schweiz einen derart ausgeprägten Antisemitismus bei muslimischen Kindern oder solchen mit Migrationshintergrund? "Bis jetzt wissen wir von Kindern, Jugendlichen oder deren Eltern wenig dergleichen", sagt Kreutner
"Trotzdem erleben die meisten jüdischen Kinder und Jugendlichen auch in der Schweiz im Verlauf ihrer Schulzeit Momente, in denen sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit gehänselt oder auch beschimpft werden." Genau dort setze das "Likrat"-Projekt an.
Das Projekt wurde inzwischen auf Erwachsene ausgeweitet: Mit "Likrat Public" helfen die Jugendlichen Firmen, Hotels und anderen Unternehmen, ihre jüdischen Kunden besser zu verstehen.
Dass solche Workshops nötig sind, zeigt der Fall eines Hotels in Arosa, das mit der Aufforderung auf einer Hinweistafel, jüdische Gäste sollten vor dem Schwimmen duschen, einen Shitstorm ausgelöst hatte. © swissinfo.ch
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