Am 29. Oktober feiert Dieter Nuhr seinen 60. Geburtstag. Im Interview mit unserer Redaktion blickt der Satiriker zurück auf die Zeit, als Zuschauerkommentare noch eine Briefmarke brauchten. Ausserdem bezieht er Stellung zu gendergerechter Sprache – und erklärt, warum er als Fotograf nie Menschen ablichtet.

Ein Interview

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Herr Nuhr, das öffentliche Debattenklima – so scheint es zumindest, wenn man Diskussionen im Internet verfolgt – ist rauer geworden. Wie kann man dem entgegenwirken?

Dieter Nuhr: Ruhe bewahren. Ansonsten sehe ich da wenig Chancen. Wenn man Kommentarspalten in den sozialen Medien verfolgt, erkennt man schnell, dass jedes Thema in der Lage ist, in Streit und Beleidigung zu enden, ob es da um Kochrezepte oder Kameraobjektive geht. Im persönlichen Kontakt ist der Mensch höflich, im mittelbaren Aufeinandertreffen ist er aggro.

Ihr Kollege Florian Schröder ist jüngst bei Querdenken auf die Bühne gegangen und hat anschliessend den Initiator Michael Ballweg in seine Sendung eingeladen. Ist so ein Dialog ein Schritt in die richtige Richtung – oder gefährlich?

Das muss im Einzelfall entschieden werden. Ich glaube, dass es grundsätzlich schwierig ist, in der Öffentlichkeit zu diskutieren, weil es dort im Gespräch nicht um die Erweiterung des eigenen Standpunktes geht, sondern darum, recht zu haben. Eine Unterhaltung ergibt dann Sinn, wenn man bereit ist, auch den eigenen Standpunkt zu hinterfragen und im Gespräch fortzuentwickeln.

In den USA ist die Verhärtung der Fronten in der Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass manche Beobachter schon einen Bürgerkrieg befürchten. Halten Sie es für möglich, dass es in Europa zu ähnlichen Zuständen kommt?

Ich glaube, dass wir bei den politischen Extremen, bei rechten, linken und religiösen Fundamentalisten, die Bereitschaft haben, andere Standpunkte mit allen Mitteln niederzukämpfen. Die überwältigende Mehrheit der Bürger ist da aber anders. Leider werden in unseren Medien extreme Standpunkte stark überbewertet, weil sie stärker erregen und dadurch mehr Quote, Klicks und Auflage erzeugen. Ausserdem sind bei uns weniger Waffen im Umlauf als in den USA. Das beruhigt mich.

Der Journalist Stephan Anpalagan sagte gegenüber unserer Redaktion, die "Empörungsmaschine" gab es schon immer, "sie war nur lange Zeit eine Einbahnstrasse von Medienmachern und Politikern". Wo sehen Sie es als Gewinn und wo als kontraproduktiv, dass sich heute im Prinzip jeder Bürger publizistisch betätigen kann?

Durch die sozialen Medien hat sich die Anzahl der öffentlich Erregten vervielfacht. Früher musste man einen Brief schreiben, eine Briefmarke aufkleben und noch zum Briefkasten laufen. Da war die Wut meist verraucht, bevor die Marke aufgeklebt wurde. Ausserdem dauerte es Tage, bis man Antwort bekam. So kam es seltener zu eskalierender Aggression. In der Tat glaube auch ich, dass viele Medien schon früher gezielt erzeugte Empörung als Katalysator verwendet haben. Seit das jeder Bürger selber machen kann, wird in den Clickbait-Medien morgens der Twittertrend gecheckt und dann das Meistgeklickte in der Zeitung wiederholt. So werden zum Beispiel Regionalzeitungen zum Erregungsverstärker – und ganz nebenbei machen sie sich überflüssig.

Welchen Lernprozess haben Sie selbst über die Jahre durchmachen müssen, was Internet-Debatten anbelangt?

Ich habe gelernt, dass sie viel bedeutungsloser sind, als man annimmt. An den meisten Menschen geht der Dauershitstorm vorbei. Ich bin gelassener geworden.

Gibt es Entwicklungen in Welt und Gesellschaft, angesichts derer Sie froh sind, schon 60 Jahre alt zu sein?

Da ich nicht vorhabe zu sterben, sind die 60 kein Argument für Nachsicht. Aber man wird gelassener. Nicht alles wird so heiss gegessen wie gekocht. Ich habe indessen so viele Hysterien überlebt, dass ich bei der nächsten erst einmal abwarte, bevor ich mich aufrege. Ich mache es wie der Wald. Ich warte mit dem Sterben und lebe einfach erstmal weiter.

Ein wiederkehrendes Thema bei Ihren Auftritten ist gendergerechte Sprache: Wie schätzen Sie die Entwicklung unserer Sprache in den nächsten Jahrzehnten ein?

Keine Ahnung. Ich bin ja Komiker, kein Prophet. Ich glaube nur nicht, dass Sprache von Ideologen von oben vorgeschrieben wird. Ich halte die Diskussion um gendergerechte Sprache für völlig überzogen. Ihre Bedeutung geht gegen null. Kein Gendersternchen hat Einfluss auf Geschlechterverhältnisse. Insofern: Hier geht es um die Herrschaft über die Zeichen. Und die sollte man unbedingt nicht einer einzelnen ideologischen Gruppierung überlassen. Versuche der Beeinflussung des Denkens durch Sprachmanipulation sind eigentlich das Privileg von Diktatoren. Ich finde, jeder soll sprechen wie er will – und vor allem, wie er es gelernt hat. Sprache ist etwas sehr Persönliches, sehr Intimes, da lasse ich mir keine Vorschriften machen, weder vom Staat, noch von Interessengruppen.

Der Umgang mit Gendersternchen ist kompliziert, vor allem beim gesprochenen Wort – oder ist es vielleicht alles nur eine Frage der Gewöhnung und in zehn Jahren benutzen wir die neuen Formen ganz selbstverständlich?

Das würde mich stark verunsichern, weil es bedeuten würde, dass die Sprachpädagogen in der Lage wären, das Grosse und Ganze zu verändern. Ich kenne niemanden, der an der Theke oder im Sportverein so spricht, und ich glaube, das wird auch so bleiben. Sprache verändert sich langsam und anarchisch, nicht nach ideologischer Vorgabe. Und wenn es doch gelänge, Sprachen durch Vorschrift von oben zu verändern, dann würde mir das Angst machen.

Neben grossem Zuspruch werden Sie auch regelmässig für einzelne Pointen kritisiert. Gab es im Verlauf Ihrer Karriere jemals den Moment, wo Sie eine Kritik als berechtigt empfunden haben?

Humor ist eine scharfe Waffe. Sich über etwas lustig zu machen, ist für den Betroffenen im Einzelfall sehr verletzend. Insofern habe ich immer versucht, nur Dinge zu sagen, die ich auch sagen würde, wenn der Betroffene im Raum ist. Ob mir das immer gelungen ist? Keine Ahnung. Jeder macht Fehler. Ich sicher auch.

Wer Sie im Fernsehen sieht, erfährt dort nichts über Ihre zweite Leidenschaft, die Fotografie. Dabei wurden Ihre Werke schon in vielen Städten ausgestellt. Geniessen Sie als Fotograf die Vorteile des "stillen" Künstlers?

Ich habe Kunst studiert und mein Leben lang Bilder gemacht. Das ist ein wichtiger Teil meines Lebens und sicher mindestens die Hälfte meiner Arbeit. Kunst ist stiller, hat aber natürlich auch nicht die Aussenwirkung wie eine Fernsehsendung. Ich stelle momentan in China aus, hatte dieses Jahr eine Ausstellung in Spanien und die Ausstellung in St. Petersburg wurde wegen Corona ins nächste Jahr verschoben. Das ist mir alles eine grosse Freude.

Warum sieht man keine Menschen auf Ihren Bildern?

Mich interessiert die Lebensraumerkundung. Meine Bilder (zu sehen auf "dieternuhr.de", Anm. d. Red.) sind auf der ganzen Welt entstanden, zwischen Japan und Bolivien, Norwegen und Sambia. Mich interessieren Spuren, also das, was Menschen hinterlassen. Menschen direkt zu fotografieren, ist mir oft zu distanzlos.

Sie fotografieren häufig raue Oberflächen, von denen die Farbe abblättert, Ruinen mit zerborstenen Fensterscheiben, heruntergekommene Fassaden. Welchen Reiz haben solche Motive für Sie?

Ich mag es, wenn man in meinen Bildern der Zeit beim Vergehen zusehen kann.

Man könnte aus den Motiven aber auch schliessen, dass Sie relativ trist auf die Welt schauen. Oder würden Sie dem widersprechen?

Auf jeden Fall. Meine Bilder sind farbig, sie feiern geradezu das Vergängliche. Sie verwechseln Tristesse mit Melancholie. Melancholie ist ein schönes Gefühl, vielleicht in dieser Erregungszeit nicht die vorherrschende Emotion. Umso schöner, sie zu erleben. Ich empfinde meine Bilder als lebensfroh.

Japan, Bolivien, Norwegen, Sambia – welche Reisen haben Ihnen am meisten die Augen geöffnet, im Hinblick auf Zustand des Planeten und unserer Gesellschaft?

Alle. Jede Reise schafft Distanz zur eigenen Lebenswelt. Und jede Distanz hilft bei der Betrachtung des Ganzen. Auf Reisen merkt man, dass jeder Massstab kulturell gesetzt und nichts selbstverständlich ist. Ausserdem lernt man, das Leben nicht an Ideologien zu messen, sondern an den Realitäten. Und man beginnt, das Erreichte wertzuschätzen und Begriffe an Realitäten abzugleichen.

Helge Schneider sagte im Mai: "Ich trete nicht auf vor Leuten, die 1,50 Meter auseinander sitzen und Mundnasenschutz tragen müssen. Ich werde erst wieder auftreten, wenn alle Freiheiten wieder da sind." Haben Sie Verständnis für seine Haltung?
Ich kann Helge gut verstehen. Trotzdem gehe ich ein bisschen anders vor. Ich trete, schon damit alle anderen Beteiligten auch mal wieder berufstätig sein können, auch vor kleinerem Publikum unter Einhaltung der Abstandsregeln auf. Allerdings muss die Atmosphäre so sein, dass der Auftritt funktionieren kann. Im Autokino aufzutreten war deshalb für mich keine Option. Jeder soll das machen, wie er es für sich als richtig empfindet.

Zum Schluss: Wenn Sie sich zum Geburtstag verstorbene Humoristen auf die Bühne Ihrer TV-Sendung wünschen könnten, wer wäre auf jeden Fall dabei?

Hanns Dieter Hüsch! Der war ein grossartiger Mensch, auch unideologischer Pragmatiker und dementsprechend von den Linientreuen als bürgerlicher Komiker gehasst. Ich habe ihm viel zu verdanken. Ansonsten leben die meisten noch, die ich für grossartig halte.

Dieses Interview wurde schriftlich geführt.
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