Es ist kein halbes Jahr her, da lieferten sich Polizisten und Demonstranten in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito Strassenschlachten mit Toten und Verletzten – aus Geldnot wollte die Regierung von Präsident Lenín Moreno Diesel-Subventionen streichen. Nun ist Ecuador erneut Schauplatz einer Krise. Kaum ein Land in Südamerika hat das Coronavirus härter erwischt.
"Die Situation ist dramatisch, die Menschen leiden Hunger", zitiert die Nachrichtenagentur KNA den Ecuador-Experten des bischöflichen Hilfswerks Adveniat, Franz Hellinge. Vor allem in den armen Vierteln der Hafenstadt Guayaquil, die am härtesten getroffen ist, leiden die Menschen unter den strengen Ausgangssperren. Die Menschen dort arbeiten oft im informellen Sektor, verkaufen Lebensmittel und Dienstleistungen auf der Strasse. Das geht zurzeit nicht mehr. Darum versorgt Adveniat die Menschen mit dem Nötigsten – Lebensmitteln und Hygieneprodukten.
Krankenhaus ist Infektionsort Nummer eins
Andere haben Glück im Unglück. So wie Ramón. Der gebürtige Ecuadorianer, der eigentlich anders heisst, lebt in Hessen. Seine Eltern jedoch beide in Guayaquil. Und beide wurden infiziert. Die beiden Senioren, beide über 70 Jahre alt, bekamen plötzlich hohes Fieber. In ein Krankenhaus wollten sie nicht. "Das ist der Infektionsort Nummer 1", erzählt Ramón. Glücklicherweise fanden seine Eltern ein Labor, in dem sie einen Test machen konnten. Eigentlich ist das kaum möglich. "Aber momentan sind alle opportunistisch", sagt Ramón. Und für Bargeld geht viel. 300 Dollar zahlten sie pro Test. Für Normalverdiener unerschwinglich. Ein Monatslohn liegt bei durchschnittlich 400 Dollar.
Ramón und seine Brüder leben im Ausland. Vor Ort helfen konnte er nicht. Viele Airlines haben den Betrieb heruntergefahren, Länder den Luftraum weitgehend abgeriegelt. Er hätte einen Flug gefunden. Für 3.500 Euro. Doch in Ecuador hätte er in Quarantäne gemusst, hätte also auch nicht gleich helfen können. Quarantäne bedeutet, die Zeit in Hotels zu verbringen, die die Regierung für geeignet hält. Meist erfüllen dieses Kriterium nur teure internationale Hotelketten. Gezahlt hätte das aber nicht der Staat, sondern Ramón aus eigener Tasche.
Ramón versuchte, für seine Eltern einen Krankenpfleger zu finden. "Doch mit zwei Infizierten Kontakt zu haben, wollte niemand", sagt er. Zum Glück gibt es in Guayaquil noch Verwandte, die die Eltern mit Lebensmitteln versorgen konnten. Die Verwandten berichten nun, dass es den Eltern besser und besser gehe.
Das Coronavirus kam aus Spanien
Das Virus hat Ecuador hart getroffen. Vor allem die Hafenstadt Guayaquil, mit knapp drei Millionen Einwohnern die grösste Stadt des Landes – und dessen Wirtschaftszentrum. Sie steht zurzeit praktisch still. Wie auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas reiste der Erreger mit Touristen aus dem reichen Europa ein. Genauer aus Spanien. Erste Patientin soll eine Seniorin gewesen sein, die am 14. Februar nach Ecuador zurückreiste. Zunächst zeigte sie keine Krankheitssymptome. Erst knapp zwei Wochen später wurde sie getestet. Das Ergebnis war positiv, das Virus unterwegs.
Dass es sich rasant verbreiten konnte, hat mehrere Gründe. Wie gesagt, Ecuador war bereits im vergangenen Herbst wirtschaftlich angeschlagen, stand kurz vor der Insolvenz. Ein Kredit des Internationalen Währungsfonds mit Auflagen, die den Handlungsspielraum weiter eingeschränkt hätten, konnte gerade noch abgewendet werden. Der Preisverfall für Erdöl hat die wirtschaftliche Not verschärft. Ecuadors Wirtschaft ist extrem abhängig von seinen Ölexporten.
Das Virus traf Ecuador zur Unzeit. In der besonders betroffenen Küstenregion waren gerade Sommerferien, als das Virus ausbrach. Die Ecuadorianer, die es sich leisten können, verbringen ihren Urlaub in den USA oder Europa. Hinzu kam, dass die ersten Fälle nach der Rückkehr spät erkannt wurden. So kamen Massnahmen wie die Ausgangssperre zu spät.
Und sie trafen die Menschen hart. Die Ausgangssperren sind wesentlich härter, als etwa in Deutschland. Um 14:00 Uhr muss jeder zu Hause sein. Das sorgte für Panik. Folge: Die Menschen stürmten die Supermärkte, an Abstandsregeln war da nicht mehr zu denken. Fake News über das Virus kursierten und verunsicherten die Menschen zusätzlich. Viele Menschen starben auf sich alleine gestellt.
Bestatter sind nicht systemrelevant
Zudem: Von der Ausgangssperre ausgenommen sind zwar sogenannte systemrelevante Berufsgruppen. Bestatter gehören aber nicht dazu. So schafften sie es nicht, die Verstorbenen bei den Familien abzuholen – viele starben in den eigenen vier Wänden. Andere weigerten sich aus Angst vor Ansteckung, dies zu tun. So kam es zu den Bildern, die durch die Medien gingen: Menschen legten die Leichen ihrer Angehörigen einfach in die Strassen. Notfriedhöfe wurden eröffnet, Leichen notdürftig in Särgen aus Pappe beerdigt.
Das Gesundheitssystem war geschwächt und ausgedünnt. Es gibt zwar ein kostenloses öffentliches Gesundheitssystem, das, solange es dem Land gut ging auch funktionierte. Doch die Probleme beschäftigen Ecuador bereits seit vier, fünf Jahren. Immer wieder hatten Präsidenten erklärt, den Notstand beheben zu wollen. Der aktuelle Präsident Lenín Moreno ebenso, wie sein linker Vorgänger Rafael Correa. Geschehen ist aber nichts, das Gesundheitssystem blieb kaputt gespart.
Zu wenig Corona-Tests: hohe Dunkelziffer befürchtet
Es gibt viel zu wenige Tests, die Dunkelziffer über das wahre Ausmass der Pandemie ist damit hoch. Franz Hellinge glaubt, dass die offiziellen Statistiken "nicht ansatzweise" die tatsächliche Situation wiedergeben.
Die Zeitung "El Universo" rechnete jüngst vor: Normalerweise sterben in der Provinz Guayas im Schnitt 2.000 Menschen pro Monat. Von Jahresbeginn bis zum 15. März seien aber bereits 14.561 Tote registriert worden, also fast 10.000 mehr als normal. Dass dies mit Corona zu tun haben könnte, scheint naheliegend. Die offiziellen Zahlen lagen am Donnerstag, 7. Mai, 8:00 Uhr bei 29.420 Fällen und 1.612 Toten.
Wie geht es weiter? Ende vergangener Woche gewährte der IWF einen Notkredit von 643 Millionen US-Dollar. "Ecuador braucht Hilfe von aussen", sagt Ramón. Aus eigener Kraft wird es das Land bei gleichzeitig niedrigem Ölpreis kaum schaffen.
Doch das Virus ist überall auf der Welt unterwegs, jeder ist zunächst einmal mit sich selbst beschäftigt.
Verwendete Quellen:
- Adveniat.de - Corona-Krise in Ecuador: "Arme Familien haben nichts mehr zu essen"
- worldometers.info - Coronafälle in Ecuador
- Auswärtiges Amt Berlin - Ecuador: Reise- und Sicherheitshinweise
Mit und ohne Maske: So breiten sich Tröpfchen beim Sprechen aus
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