- Mehr als 100.000 Menschen sind in den USA innerhalb von 12 Monaten an Drogenmissbrauch gestorben – so viele wie nie zuvor.
- Die Pandemie hat die Opioid-Krise in Amerika weiter verschärft. Als Todesursache Nummer 1 bei den unter 25-Jährigen hält vor allem das Opioid Fentanyl Amerika in Schach.
- Welche Rolle Pharmariesen wie Johnson & Johnson spielen, wieso die Zahlen immer weiter steigen und wie gross die Gefahr für Europa ist, erklärt Suchtforscher Michael Klein.
Eine traurige Rekordmeldung hat die Epidemie, welche die USA neben dem Coronavirus in Schach hält, wieder in die Nachrichten gebracht: Mehr als 100.000 Drogentote verzeichnete Amerika innerhalb von nur 12 Monaten. Das teilte die US-Gesundheitsbehörde CDC am 17. November mit. Das sind fast 30 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum – so viele wie nie zuvor.
US-Präsident Biden zeigte sich betroffen von der traurigen Rekordmeldung und sprach von einem "tragischen Meilenstein". Im Kampf gegen die Corona-Pandemie dürfe die Drogenproblematik nicht in Vergessenheit geraten.
Pandemie hat Anteil
Die wiederum trägt mit dazu bei, dass die Behörden aktuell besonders viele Drogentote verzeichnen: "Der genaue Anteil, den die die Pandemie zum Rekord an Drogentoten beiträgt, lässt sich schwer beziffern. Fest steht aber: Sie hat einen Anteil daran", sagt Suchtforscher Michael Klein.
Das gleich aus mehreren Gründen: "Wer sich mit dem Coronavirus infiziert hat, hat ein geschwächtes Immunsystem und verkraftet Drogen dann auch nicht mehr so gut", erklärt Experte Klein. Entscheidend sei aber auch, dass sich durch die Pandemie Lebens- und Alltagsbedingungen verändert hätten.
Arbeitslosigkeit, eingeschränkte Behandlung
"Die Pandemie hat viele Amerikaner durch Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit noch vulnerabler gemacht", sagt Klein. Manche von ihnen suchten den Ausweg im Konsum. Der Zugang zur Behandlung hat sich durch die Pandemie ebenfalls verschlechtert: "Aufsuchende Hilfen und Beratungsstellen waren zeitweise eingeschränkt", sagt Klein.
Ohnehin sei das Hilfesystem für Drogenkranke in den USA viel schlechter als in Deutschland. "Menschen, die nicht versichert sind, haben kaum Anspruch auf Therapien", sagt der Experte. Stationäre Therapien seien kaum finanzierbar. "Die Süchtigen können sich dann nur auf Selbsthilfegruppen verlassen. Dort aus eigener Kraft hinzugehen, ist aber sehr schwierig", erinnert Klein. Ein niedrigschwelligeres und umgänglicheres Hilfesystem sei geboten.
Drogenkrise tobt seit Langem
Neu ist diese Erkenntnis nicht: Die Drogenkrise tobt in den USA bereits seit Jahrzehnten, die Coronakrise hat sie nur verschärft. Gab es im Jahr 1999 noch knapp 17.000 Drogentote, ist die Zahl seitdem immer weiter in die Höhe geklettert. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 starben deutschlandweit rund 1.600 Menschen an den Folgen ihres Drogenkonsums.
Ob Demokraten oder Republikaner – keine Regierung scheint die Krise in den Griff zu bekommen. Ende 2017 hatte der damalige Präsident Donald Trump angesichts eines massenhaften Missbrauchs von Heroin und anderen Opioiden den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen.
Rolle der Pharmariesen
"Das Besondere an der amerikanischen Opioid-Krise ist, dass sie nicht nur den illegalen Drogenmarkt induziert wurde, sondern durch die US-Pharmaindustrie", analysiert Suchtforscher Klein. Sie hätten im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre Schmerzmittel wie Oxycontin ungeachtet der Suchtgefahr aggressiv vermarktet und als Alltagsschmerzmittel beworben.
"Die Hemmschwelle, solche Schmerzmittel einzunehmen, ist dadurch extrem abgesunken", sagt Klein. Erst im Juli hatten der Arzneimittelgrosshändler Johnson & Johnson und drei weitere Pharmakonzerne im Rechtsstreit um süchtig machende Schmerzmittel einem milliardenschweren Vergleich zugestimmt.
Fentanyl dominiert den illegalen Markt
Mehrere Kläger hatten den Grosshändlern vorgeworfen, zu wenig getan zu haben, um die massenhafte Verbreitung der Schmerzmittel über illegale Kanäle zu verhindern. Pharma-Unternehmen hatten Ärzte in der Vergangenheit bestochen, mehr Opioide zu verschreiben.
War es zunächst das Schmerzmittel Oxycontin, das 1996 von "Purdue Pharma" auf den Markt gebracht wurde und die USA in Schach hielt, bestimmt aktuell vor allem ein Stoff den amerikanischen Drogenmarkt: Fentanyl. Jeder zweite Drogentote nahm das Opioid, es ist in den USA bei den unter 25-Jährigen die Todesursache Nummer 1 – tödlicher als Schusswaffen oder Aids.
Grossteil kommt aus China
Ursprünglich sollte das Medikament Krebspatienten im Endstadium oder bei schwersten Operationen helfen, es schaltet einen Rezeptor im Gehirn aus, um Schmerzen abzuschalten. Erstmals synthetisiert wurde Fentanyl 1959 vom belgischen Chemiker Paul Janssen, zwei Jahre später kaufte Johnson & Johnson dessen Firma.
Heute wird der Grossteil illegal in China produziert. "Fentanyl macht extrem schnell abhängig", sagt Suchtforscher Klein. Von reinen Opioiden landen die meisten Süchtigen beim Heroin, weil es billiger ist. Doch auch hier wird Fentanyl von den Produzenten beigemengt, um die Abhängigkeit zu beschleunigen und zu intensivieren.
Fentanyl: Schnell überdosiert
"Aus Sicht der Drogenhändler ist es eine geniale Substanz, um die Menschen noch schneller als mit reinem Heroin abhängig zu machen", sagt Klein. Der Wirkstoff des synthetisch hergestellten Opioids ist 100-mal so potent wie Morphin, es wirkt 50-mal stärker als Heroin.
Das Gefährliche: Eine Überdosis bewegt sich im Milligrammbereich, schon eine winzige Überdosierung kann zum Atemstillstand führen. "Auf der Strasse kann Fentanyl nicht dosiert werden, dafür bräuchte man eine Chemikerwaage", erklärt Klein.
Den Dealern ausgeliefert
Weil Konsumenten nicht wüssten, wie viel Fentanyl der Substanz beigemischt sei, seien sie Produzenten und Dealern ausgeliefert. Durch die Illegalisierung der Märkte liege über die Produzenten viel im Dunkeln, der Import und Verkauf erfolgen anonym und weitgehend verfolgungssicher über das Darknet.
"Die Epidemie ist wie ein riesiger Öltanker, den man bremsen muss. Das geht nicht sofort", meint Klein. Die Bugwelle an Süchtigen habe sich bis etwa 2013 aufgebaut. "Wenn die Menschen schon abhängig sind, kommen sie da nur sehr schwer wieder raus", sagt der Experte.
Gegengift für die Polizei
Die USA müssten deshalb eine Reihe an Massnahmen ergreifen. Neben einer effektiveren Drogenverfolgung hält er beispielsweise die Ausstattung der Polizei mit dem Opioid-Antagonisten "Naltrexon" für geboten. "Das ist der gegenteilige Wirkstoff von Fentanyl, bei einem Drogennotfall kann er Leben retten", sagt Klein.
Als ebenso bedeutsam erachtet er jedoch die Prävention. Ansatzpunkte: Die schnelle Verelendung, das mangelnde Arbeitslosenhilfesystem, der konstruktive Umgang mit Problemen und Schmerz. "Die Amerikaner haben viel mehr Existenzängste als hierzulande", erinnert Klein.
In Europa angekommen
Doch auch für Deutschland spricht er eine Warnung aus: "Fentanyl ist inzwischen auch in den illegalen Märkten in Europa vorhanden – wenn auch viel geringer als in den USA", weiss Klein. Fentanyl tauche immer häufiger auf. Es sei äusserst schwierig, sich im Vorfeld dagegen ausreichend zu wappnen, die illegalen Produzenten seien extrem effektiv. "Gut ist, dass die Verschreibungshürden für Opioide in Deutschland generell viel höher sind", erinnert Klein.
Die USA sollten Europa ein Lehrbeispiel für fahrlässigen Umgang mit Pharmawerbung, gesellschaftlicher Korruption sowie einem Mangel an Prävention und Behandlungsmöglichkeiten sein.
Verwendete Quellen:
- Centers for Disease Control and Prevention: Drug Overdose Deaths in the U.S. Top 100,000 Annually.
- Centers for Disease Control and Prevention/ National Center for Health Statistics: Todesfälle durch den Konsum illegaler Drogen in den USA 1999 bis 2019
- Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Zahl der an illegalen Drogen verstorbenen Menschen während der Coronapandemie um 13 Prozent gestiegen.
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