- In den Nachkriegsjahren sind Heranwachsende in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe mit Medikamenten missbraucht worden.
- Sie wurden damit ruhiggestellt, bestraft und als Versuchsobjekte benutzt. Eine wissenschaftliche Studie soll nun Licht in das dunkle Kapitel bringen.
- Ein Betroffener hat mit unserer Redaktion über seine Erlebnisse gesprochen.
Es ist Jahrzehnte her, aber die Bilder haben sich in das Gedächtnis von Werner A. gebrannt: Grüne und weisse Tabletten, manche davon so dick, dass man sie viertelte. Er musste die Pillen schlucken, mehrmals täglich, jahrelang. Widerspruch wurde nicht geduldet, der Mundraum sorgsam von den Ordensschwestern im Josefshaus kontrolliert. "Es hat nicht lange gedauert, dann setzten Schwindel und die Müdigkeit ein", erinnert sich der heute 65-Jährige im Gespräch mit unserer Redaktion. Ständig sei er so benommen gewesen, dass er eingeschlafen sei.
Warum er die Medikamente nehmen musste, hatte man ihm nicht erklärt. "Ich habe das nicht hinterfragt, ich war schliesslich ein Kind", sagt er. Nur, dass er besser spurte, war ihm schnell klar – sonst drohten Schläge. Seine Eltern hat A. nie kennengelernt, kurz nach der Geburt kam er ins Säuglingsheim Annastift. 1959 dann die Verlegung ins Josefshaus, wo er täglich Psychopharmaka und Schlafmittel verabreicht bekam.
"Das dunkle Kapitel": NRW gibt Studie in Auftrag
"Ich war ein kerngesundes Kind, nur ein wenig unterernährt, so steht es in den Akten", betont A. "Warum hat man mir dann so viele Medikamente verabreicht?", fragt er. A. sucht nach Antworten – die er bald bekommen könnte.
Denn die Landesregierung in NRW hat eine Studie an der Universität Düsseldorf in Auftrag gegeben, die missbräuchliche Medikamentenversuche in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in den Nachkriegsjahren aufarbeiten soll. "Das dunkle Kapitel unserer Landesgeschichte muss aufgeklärt werden", hatte NRW-Sozialminister Karl-Josef-Laumann (CDU) gefordert und die Studie mit einem Budget von 430.000 Euro versehen.
Doktorarbeit: Pharmazeutin bringt Stein ins Rollen
Ins Rollen gebracht hatte die Studie die Medizinhistorikerin und Pharmazeutin Sylvia Wagner im Jahr 2016. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über Medikamentenversuche in den 1950er und 1960er Jahren und fand Belege für etwa 50 Versuchsreihen mit Kindern in Heimen in ganz Deutschland zwischen 1957 und 1972. Studien gab es daraufhin auch bereits in Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
"Die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und Erlebnisberichte damaliger Opfer belegen in vielen Fällen, dass Kindern und Jugendlichen unsachgemäss und missbräuchlich Medikamente verabreicht wurden", sagte Minister Laumann. Heute weiss man bereits: Tausende sind betroffen.
Nicht zugelassene Präparate: Arzt ist kein Unbekannter
Auch A. sagt traurig: "Ich war ein Versuchskaninchen für die Pharmaindustrie." Er erinnert sich noch an Koffer voll mit Medikamenten, die in der Apotheke abgeholt und ins Heim gebracht wurden. "Der Hausarzt des Heimes, Dr. Schuberts, hat uns die Medikamente verschrieben", sagt A. Ein Name, der bereits bekannt ist: Der Heimarzt war gleichzeitig Chefarzt der Süchtelner Psychiatrie – eine Einrichtung, für die missbräuchliche Medikamententests schon belegt sind. Kinder im Alter von zwölf und 13 Jahren sollen dort das Neuroleptikum "Dipiperon" verabreicht bekommen haben.
Zu den Wirkstoffen, die in Heimeinrichtungen an wehrlose Kinder verabreicht wurden, zählen auch Impfstoffe gegen Kinderlähmung, Psychopharmaka und die Libido hemmende Medikamente. "Es waren Versuchspräparate, manche noch gar nicht zugelassen", weiss A. Manche Einrichtungen haben ihre Archive bereits in eigenen Studien prüfen lassen.
Ruhigstellen, Strafen, Testen
In der katholischen Einrichtung Franz Sales-Haus in Essen kam beispielsweise heraus, dass dort mehr als die Hälfte der Kinder Psychopharmaka schlucken musste. Der dortige Heimarzt Dr. Waldemar Strehl verabreichte den Kindern Psychopharmaka zum Ruhigstellen, zur Strafe und zum Testen für die Pharmaindustrie.
Darunter auch das Medikament "Decentan" der Firma Merck – ein Mittel gegen Schizophrenie. Die verabreichte Dosis kritisierten aber selbst Vertreter der Herstellerfirma als "viel zu hoch", wie aus einem überlieferten Protokoll hervorgeht. Strehl notierte Nebenwirkungen wie Nackenstarre, Taumeln, Benommenheit.
Betroffene traumatisiert durch Erlebnisse
Nun soll in einer systematischen Studie eine rund dreistellige Zahl an Einrichtungen untersucht werden. Viele Betroffene hatten sich erst getraut, über ihr Schicksal zu sprechen, als die Studien aufkamen. "Ich sollte damals ruhiggestellt werden, aber jetzt breche ich das Schweigen", sagt auch A. Heranwachsende mit Medikamenten zu disziplinieren, zählte in den 1950er und 1960er Jahren in vielen staatlichen und kirchlichen Heimen zur Routine, die neuen Mittel als Fortschritt.
Viele Betroffene sind bis heute durch die Erlebnisse traumatisiert. Sie berichten von Selbstmordgedanken und Wahnvorstellungen in Folge der Medikamentengabe. Auch A. muss heute noch Tabletten gegen körperliche Beschwerden nehmen. Ob ein Zusammenhang zu den Medikamentengaben von damals besteht, weiss er nicht.
Kampf für Entschädigungen
A. hat sich der "1. Community" angeschlossen, die für Anerkennung und Entschädigungen für die Betroffenen kämpft. "Ich möchte wissen, wieso das geschehen ist. Als ich davon erfuhr, war ich entsetzt", sagt er. Die von der Landesregierung in Auftrag gegeben Studie soll klären: Haben Eltern und Jugendamt den Medikamentengaben zugestimmt? Wieso, oder wieso nicht?
Ziel ist es, Verantwortliche auch auf staatlicher Ebene zu benennen. Dafür führen die Forschenden Interviews mit Zeitzeugen und werten historische Dokumente von Behörden, Pharmaunternehmen und wissenschaftliche Veröffentlichungen aus. Ergebnisse soll es 2024 geben.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Werner A. und Hintergrundgespräch mit 1. Community
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