Es war ein Leben in ständiger Gefahr, das die Kindheit von Selma Jahic prägte. Als bosnische Muslima flüchtete die heute 32-Jährige mit ihrer Familie vor den serbischen Besatzern. Bei dem Genozid im Juli 1995 in der Stadt Srebrenica verlor Jahic ihren Grossvater. Mit unserer Redaktion hat sie über ihre traumatischen Erinnerungen gesprochen – und darüber, warum die Aufarbeitung noch immer nicht abgeschlossen ist.
Zu Kriegsbeginn war sie gerade einmal vier Jahre alt, doch die Erinnerungen aus den folgenden Jahren haben sich Selma Jahic unvergesslich eingebrannt. Vollständig verarbeitet hat sie das, was damals passierte, auch 25 Jahre später nicht.
So lange liegt das Massaker von Srebenica, das von UN-Gerichten inzwischen als Genozid klassifiziert wurde, inzwischen zurück. In der ostbosnischen Stadt wurden im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg damals über 8.000 Männer durch serbische Soldaten hingerichtet und in Massengräbern verscharrt.
Auch Jahic hat dabei einen Angehörigen verloren. Die heute 32-Jährige ist Überlebende, war damals Flüchtling in dem Krieg, der durch den Zerfall Jugoslawiens und Streitigkeiten über die Unabhängigkeit von Serbien entbrannte. Als Bosniaken, also bosnische Muslime, standen sie und ihre Familie im Visier der serbischen Nationalisten und ihren Säuberungsplänen.
Srebrenica: Erinnerungen an Flucht und Armut
Die ersten Erinnerungen, die Jahic an ihre Kindheit hat, sind von Flucht und Armut geprägt, wie sie unserer Redaktion erzählt. "Das Leben war von starker Armut geprägt, es fehlte an allen Ecken und Enden. Lebensmitteltransporte wurden regelmässig durch serbische Truppen blockiert", berichtet Jahic.
Ihre Familie habe versucht, nachts Gemüse und Getreide anzupflanzen, um nicht von Feinden entdeckt zu werden. Auch sei die Mutter oft auf Plünderungszüge gegangen, meist aber mit leeren Händen zurückgekehrt.
"Sie hat nur uns Kindern Essen gegeben und selbst gehungert", sagt Jahic. Eine Anekdote, die die Nahrungsknappheit für sie verdeutlicht: "Mein Bruder wurde einmal nach einem Unfall auf einer UN-Basis versorgt. Die Soldaten schenkten ihm im Anschluss eine Orange. Er kam zu meiner Mutter gelaufen und rief 'Mama, ich habe einen Ball zum Spielen bekommen!' Er kannte einfach keine Orangen", erzählt sie.
Leben in ständiger Gefahr
Besonders ein Foto ruft all diese Erinnerungen in ihr wieder wach: Es zeigt Jahic im Alter von sechs Jahren, ein Jahr vor dem Massaker, auf dem Schoss ihrer Mutter. Sie, mit weisser Hose, gestreifter Weste und kurzen blonden Haaren, die Mutter im geblümten Rock und schwarzen T-Shirt.
Die Kleidung ist zusammengeflickt, die Schuhe sind aus Gürteln gemacht. Auf dem Foto lächeln sie und ihre Mutter in die Kamera, aber Jahic erinnert sich genau: "Im Hintergrund sieht man die Berge, wo die feindlichen Truppen stationiert waren. Wir waren in ständiger Gefahr."
Seit 1993 sei ihr Heimatdorf in der Gemeinde Bratunac immer wieder von Bombenanschlägen heimgesucht worden. Aufgenommen wurde das Foto von einem Soldaten der Vereinten Nationen, die damals in der Schutzzone stationiert waren, um Sicherheit zu gewährleisten.
Eigentlich – denn als serbische Einheiten unter Führung von Armeechef Ratko Mladic und dem politischen Führer Radovan Karadzic die zehn Kilometer entfernte Stadt Srbrenica am 11. Juli einnahmen, konnten die UN-Soldaten angesichts mangelnder Ausrüstung und Befugnisse keinen Widerstand leisten. Die Stadt war im Juli 1995 zur Zufluchtsstätte für tausende Bosniaken geworden, die vor den serbischen Besatzern flüchteten.
Hoffen auf ein Kriegsende
Auch Jahics Mutter versteckte sich mit ihren Kindern bei Bombenangriffen häufig in Kellern, musste das Heimatdorf zum Schutz immer wieder verlassen.
"Politisch habe ich natürlich nichts verstanden, ich bin einfach an der Hand meiner Mutter mitgelaufen", erzählt Jahic. Doch auch als Kind habe sie genau gespürt, dass etwas Bösartiges in der Luft liege und Menschen sterben würden. "Mir war der Ernst der Lage klar: Ich habe genau das gemacht, was mir gesagt wurde", so Jahic weiter.
So auch im Juli 1995, als ihr angekündigt wurde, dass sie sich in Potocari, einem Dorf sechs Kilometer von Srebrenica entfernt, einfinden müssen. "Wir haben gehofft der Krieg sei vorbei, unsere besten Kleider angezogen, und gedacht, wir könnten bald wieder nach Hause", sagt Jahic.
Sie sei es bereits gewohnt gewesen, häufig in ein anderes Dorf ziehen zu müssen und dann wieder nach Hause zurückzukehren. "Meine Mutter hat schnell ein Lager mit Nahrungsmitteln für unsere Rückkehr angelegt und im Nachbargarten Kartoffeln ausgegraben", erinnert sich Jahic. Doch sie kommt nicht mehr dazu, die Kartoffeln für die Reise zu kochen – die Soldaten marschierten bereits ein.
"Es sind Menschen"
Als eine der letzten Familien treffen die Jahics in dem kleinen Dorf Potocari ein – und ahnen nicht, was sie dort wirklich erwartet. Das kleine Mädchen sieht zum ersten Mal einen serbischen Miliz-Soldaten, einen sogenannten "Cetnik".
"Ich hatte sie mir immer als Monster mit Hörnern vorgestellt, die Menschen quälen", sagt Jahic. Als aber ein grosser, glatzköpfiger Mann mit Bart und grossen Tätowierungen vor ihr steht, wird dem Mädchen bewusst: Es sind Menschen. "Das habe ich ungläubig auch immer wieder zu meiner Mutter gesagt", erzählt Jahic.
Die Soldaten trennen Männer und Frauen voneinander, die Frauen mit den Kindern werden in LKWs und Bussen wieder abtransportiert. Jahic wird mit Mutter und Bruder in ein nahegelegenes Flüchtlingscamp in Tuzla gebracht. Dort angekommen bricht Panik aus: Warum kommen die Männer und Jungen nicht nach? "Schnell wurde klar, dass sie ermordet wurden. Das betraf auch meinen Grossvater", sagt Jahic.
Späte und traurige Gewissheit
Gewissheit darüber bekam ihre Familie jedoch erst Jahre später: Ein Brief vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) übermittelte die Nachricht über den Fund der grossväterlichen Überreste. Die Grossmutter war zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre tot, die Jahics lebten inzwischen in Österreich.
"Sie ist in der Hoffnung gestorben, dass er irgendwo lebt. Eine Hoffnung, die viele Hinterbliebene immer noch haben", sagt Jahic. Ein Jahr später, mit 17 Jahren, kehrt sie mit ihrer Familie an den Ort des Geschehens zurück. "Ich habe einen Nervenzusammenbruch erlitten", sagt sie.
Nichts sei mehr dort gewesen, sie habe das Gefühl bekommen, die eigene Existenz sei ausgelöscht und unkenntlich gemacht worden. "Erst im Anschluss habe ich dann angefangen über das Geschehene mit meiner Familie und Freunden zu sprechen, zuvor hatte ich es verdrängt", sagt Jahic über ihr Trauma. Die Region um Srebrenica hat sie jedoch nie wieder besucht.
Aufarbeitung dauert an
Heute will sie ihre Geschichte erzählen, um wach zu rütteln und an der Aufarbeitung mitzuwirken. "Es gibt so viele Flüchtlinge, die auf der Welt aktuell Ähnliches erleben. Es soll für sie nicht 25 Jahre dauern, bis sie darüber sprechen können", meint Jahic.
Gleichzeitig wolle sie durch ihre Geschichte, die sie auch auf Twitter mit der Öffentlichkeit teilt, für ihre kleine Nichte und ihren Neffen etwas hinterlassen, falls ihre Erinnerungen einmal verblassen.
Noch immer lebt und arbeitet die 32-Jährige in Österreich, wo ihr Vater zu Kriegsbeginn stationiert war. Mithilfe eines Schleppers gelangte ihre Familie damals über Kroatien nach Österreich und konnte dort wieder zusammenfinden.
Mit ihr wird Jahic auf den Jahrestag des Massakers verbringen, gemeinsam Dokumentationen über die Ereignisse ansehen und erneut darüber sprechen. "Es fehlt noch sehr viel in der Aufarbeitung des Genozids", stellt Jahic klar.
Die Opfer redeten noch zu selten über das Massaker, ein Teil der Weltgemeinschaft leugne die Geschehnisse noch immer. Vielleicht ändere sich das mit dem 25. Jahrestag wieder ein kleines Stück – wenn auch nur in kleinen Schritten.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Selma Jahic
- Twitter-Profil von Selma Jahic
- Bundeszentrale für politische Bildung: "1995: Das Massaker von Srebrenica"
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