Blutende Menschen irren durch Schutt und Staub, nachdem Beirut von einer riesigen Explosion erschüttert wurde. Auslöser dafür könnte eine sehr grosse Ladung Ammoniumnitrat sein. In China war der Stoff schon 2015 für eine Reihe tödlicher Explosionen mit verantwortlich.

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Nach den schweren Explosionen im Hafen von Beirut hat das libanesische Rote Kreuz die Zahl der Toten mit mindestens 100 angegeben. Mehr als 4.000 weitere Menschen seien verletzt worden, teilte die Organisation am Mittwoch mit.

Die Schäden durch die verheerenden Explosionen in Beirut betreffen nach Angaben der Behörden fast die halbe Stadt. Bis zu 300.000 Bewohner der libanesischen Hauptstadt seien durch die Zerstörungen obdachlos geworden, sagte Gouverneur Marwan Abud am Dienstag der Nachrichtenagentur AFP. Die Höhe der Schäden schätzte er auf insgesamt drei bis fünf Milliarden Dollar.

Opferzahlen werden noch steigen

Rettungshelfer suchten in den Trümmern nach weiteren Opfern. Der Generalsekretär des Roten Kreuzes, George Kattanah, sagte der dpa, die Zahl der Opfer werde wahrscheinlich weiter steigen. Aus Sicherheitskreisen hiess es, es würden noch mindestens 100 Menschen vermisst. "Es liegen noch immer viele Menschen unter den Trümmern", sagte ein Offizieller, der ungenannt bleiben wollte.

Die Ermittler suchen zudem weiter nach der Ursache für die gewaltige Detonation in der libanesischen Hauptstadt. Möglicherweise wurde sie durch eine sehr grosse Menge Ammoniumnitrat ausgelöst, die im Hafen gelagert worden war. Regierungschef Hassan Diab erklärte den Mittwoch zum Tag der landesweiten Trauer in Gedenken an die Opfer.

Schätzungsweise 2.750 Tonnen der gefährlichen Substanz seien jahrelang ohne Sicherheitsvorkehrungen im Hafen von Beirut gelagert worden, sagte der Ministerpräsident nach Angaben des Präsidialamts.

Hinweise auf einen Anschlag oder einen politischen Hintergrund gab es am Dienstag nicht.

Blutende Menschen, zerborstene Scheiben

Beiruts Bevölkerung litt schon zuvor unter einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise. Die Explosionen stürzten sie in noch tieferes Chaos.

Grosse Teile des Hafens wurden vollständig zerstört. Aufnahmen zeigten ein Bild der Verwüstung. Auch die angrenzenden Wohngebiete wurden stark beschädigt. Durch die Erschütterung zerbarsten Fenster, Trümmerteile schlugen Löcher in Wände.

Blutende Menschen wanderten durch Schutt und Staub. Auf den Strassen standen zahlreiche zerstörte Autos. "Das ist grauenhaft, das ist nicht normal", sagte ein Mann, der am Morgen Scherben vor seiner Wohnung zusammenfegte.

Betroffen von der Explosion waren neben dem Hafen vor allem die beliebtesten Ausgehviertel, für die Beirut bekannt ist. Sogar in Orten rund 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt gingen Scheiben zu Bruch. Beirut, in dessen Grossraum schätzungsweise bis zu 2,4 Millionen Menschen leben, wurde zur "Katastrophen-Stadt" erklärt.

Der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) im Libanon, Malte Gaier, sagte dem Deutschlandfunk, besonders beunruhigend seien "massive strukturelle Schäden". So sei das staatliche Elektrizitätswerk komplett zerstört. Verwundete seine aufgrund des Ansturms auf Kliniken oft abgewiesen worden. "Wir haben die ganze Nacht hinweg, und ich vermute auch, dass das jetzt noch der Fall ist, wirklich chaotische, teils dramatische Szenen hier gesehen."

Gaier sprach von einem "Schockzustand" in der Stadt. "Das ist für uns vielleicht etwas vergleichbar mit dem Schockzustand, den wir am Morgen nach 9/11 in den USA hatten", erklärte er.

Ammoniumnitrat auch in China für Explosion verantwortlich

Ammoniumnitrat, das auch zur Herstellung von Sprengsätzen dient, kann bei höheren Temperaturen detonieren. Die Substanz dient zum Raketenantrieb und vor allem zur Herstellung von Düngemittel.

Die farblosen Kristalle befanden sich auch in dem Gefahrgutlager der chinesischen Hafenstadt Tianjin, wo 2015 nach einer Serie von Explosionen 173 Menschen getötet wurden. In Deutschland fällt die Handhabung von Ammoniumnitrat unter das Sprengstoffgesetz.

Der Stoff könnte von einem Frachtschiff stammen, dem libanesische Behörden laut Berichten im Jahr 2013 wegen verschiedener Mängel die Weiterfahrt untersagt hatten. Das Schiff war demnach von Georgien aus ins südafrikanische Mosambik unterwegs.

Der Besatzung gingen dann Treibstoff und Proviant aus, der Inhaber gab das Schiff offenbar auf. Der Crew wurde nach einem juristischen Streit schliesslich die Ausreise genehmigt. Das Schiff blieb zurück mit der gefährlichen Ladung, die in einem Lagerhaus untergebracht wurde.

Explosion in Beirut: Druckwelle breitet sich blitzschnell aus

Bei der Detonation hatte sich eine riesige Pilzwolke am Himmel gebildet. Eine Druckwelle breitete sich blitzschnell kreisförmig aus. Noch Kilometer weiter gab es Schäden. Beschädigt wurden der Regierungspalast, die finnische Botschaft und die Residenz von Ex-Ministerpräsident Saad Hariri.

Am Suk Beirut, einer modernen Einkaufsgegend, zerbarsten Fensterscheiben. Auch ein Schiff der UN-Friedenstruppen im Libanon (Unifil) wurde beschädigt. Es seien Blauhelm-Marinesoldaten verletzt worden, teilte die Mission mit.

Präsident Michel Aoun rief für Mittwoch eine Dringlichkeitssitzung des Kabinetts ein, um die Ursachen der Explosion zu klären. "Ich werde nicht ruhen, ehe ich den Verantwortlichen kenne und ihm die härteste Strafe gebe", sagte Aoun laut Zitaten des Präsidialamts bei Twitter. Regierungschef Diab erklärte den Mittwoch zum Tag landesweiter Trauer in Gedenken an die Opfer. Für die Stadt wurde ein zwei Wochen langer Notstand verhängt.

Trump spekuliert öffentlich über "Art Bombe"

Obwohl die Umstände nach wie vor ungeklärt sind, hat US-Präsident Donald Trump die Explosionen in Beirut als mutmasslichen "Angriff" mit einer "Art von Bombe" bezeichnet. "Es sieht wie ein furchtbarer Angriff aus", sagte Trump am Dienstag bei einer Pressekonferenz im Weissen Haus. Auf Nachfrage führte der Präsident aus, seine Generäle hätten ihm gesagt, dass es sich allem Anschein nach nicht um einen Unfall, sondern um einen Angriff gehandelt habe.

"Es war eine Art von Bombe, ja", sagte Trump. Ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums wollte die Äusserungen des Präsidenten auf Anfrage zunächst nicht kommentieren.

Konkrete Belege, um seine Aussage zu untermauern, lieferte Trump nicht. Er nannte aber die Art der Explosion als Begründung.

Auch waren seine Formulierungen teils sehr bestimmt, teils aber sehr vage: "Ich habe einige unserer grossartigen Generäle getroffen, und sie schienen das Gefühl zu haben, dass es das (ein Angriff) war", sagte Trump. "Das war, es scheint ihnen zufolge zu sein - und sie wissen es besser als ich - aber sie scheinen zu glauben, dass es ein Angriff war."

Europa und andere stellen Hilfen in Aussicht

Regierungen anderer Länder zeigten sich betroffen und stellten rasche Unterstützung in Aussicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich "erschüttert", wie die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer die Kanzlerin zitierte. Deutschland stehe dem Libanon in der "schweren Stunde zur Seite", twitterte Aussenminister Heiko Maas. Auch Mitarbeiter der Deutschen Botschaft seien unter den Verletzten.

Auch die Europäische Union und Frankreich - frühere Mandatsmacht des Libanon - stellten Hilfen in Aussicht. UN-Generalsekretär António Guterres reagierte bestürzt und drückte den Familien der Opfer sein "tiefstes Beileid" aus.

Selbst Israel, das mit dem benachbarten Libanon keine diplomatischen Beziehungen pflegt, bot über ausländische Kanäle "medizinische humanitäre Hilfe" an. Offiziell befinden sich beide Länder noch im Krieg. Spekulationen, dass Israel hinter der Explosion stecken könnte, räumte Aussenminister Gabi Aschkenasi aus. (hub/ank/dpa/afp)

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