Die Angst sitzt tief in Istanbul: Viele haben die Stadt verlassen, Zehntausende harren in Notunterkünften aus. Experten reden vom grossen Beben, das kommen könnte. Sogar ein Tsunami sei möglich.

Mehr Panorama-News

Mehr als 100.000 Menschen sind nach dem schweren Erdbeben und den zahlreichen Nachbeben in Istanbul mittlerweile in Notunterkünften untergekommen. Andere verlassen die Stadt, übernachten in Autos, campen im Freien - oder aber absolvieren ihren Alltag wie gewohnt. Deutsche Touristen sind von den Beben anscheinend kaum betroffen, hiess es vom Deutschen Reiseverband. Es seien nur wenige Gäste vor Ort.

Bislang hunderte Nachbeben

Dem türkischen Innenminister Ali Yerlikaya zufolge gab es seit dem schweren Beben der Magnitude 6,2 am Mittwochmittag in der Region Hunderte weitere Nachbeben, das stärkste lag bei 5,9. Bislang sind in der Region laut Städteministerium rund 1.400 Schadensmeldungen an Gebäuden registriert worden. Gut 1,5 Millionen Bauten werden ohnehin im Falle eines starken Erdbebens als "riskant" eingestuft.

Erdbeben erschüttern Istanbul
Menschen sammeln in einer Verteilstelle für Lebensmittel. © dpa / Omer Yildiz/DIA Photo/AP/dpa

Viele Menschen wollen nicht in ihre Häuser zurück, weil Experten warnen, dass ein noch stärkeres Beben die Millionenmetropole erschüttern könnte. "Bei einem Erdbeben haben wir nirgendwo Zuflucht. Also wir bleiben hier, um wenigstens ein bisschen Schutz zu haben", sagte ein Mann, der im Freien übernachtet hatte, der türkischen Nachrichtenagentur DHA.

Orhan Belge, Präsident der Vereinigung der touristischen Hoteliers in Çeşme an der Ägais, berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur Anadolu von einer merklichen Zunahme der Hotelbuchungen entlang der türkischen Ägäisküste - wer es sich leisten kann, sucht das Weite, so scheint es. Inlandsflüge ab Istanbul waren bereits ab Mittwochabend kaum noch zu ergattern, berichteten Reisewillige.

Tsunamis möglich

Der japanische Erdbebenexperte Yoshinori Moriwaki, der in Istanbul lebt, warnte gegenüber dem TV-Sender Haber Türk sowohl vor weiteren Erdbeben als auch vor einem möglichen Tsunami. Bei einem starken Beben seien bis zu drei Meter hohe Tsunamis nicht ausgeschlossen, so Moriwaki. Die Wahrscheinlichkeit eines grossen Bebens in der Region innerhalb der nächsten 30 Jahre liege bei 60 Prozent. Damit bestätigte Moriwaki andere türkische Seismologen, die von einem grossen Beben der Stärke 7 und höher ausgehen.

Laut Marco Bohnhoff vom GFZ Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam könnte solch ein Beben grosse Zerstörung anrichten. Eine Erschütterung etwa der Stärke 7,4 wäre demnach rund 60-fach stärker als das stärkste der bisherigen Beben – und fände keine 20 Kilometer von der Millionenmetropole entfernt statt. Manche Fachleute, die in türkischen Medien zu Wort kommen, rechnen sogar mit einer Magnitude von 7,7. Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem grossen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus mit rund 16 Millionen Einwohnern nicht als erdbebensicher.

Scharfe Kritik an mangelnder Vorbereitung

Entsprechend wächst die Kritik an der staatlichen Vorbereitung für den Ernstfall. Ein Politiker der nationalkonservativen Oppositionspartei Iyi sagte im Parlament mit Blick auf die schlechte Vorbereitung der Stadt, die Menschen würden "in Särgen und nicht in Wohnungen" leben. Der politische Analyst Levent Gültekin kritisierte in seinem Youtube-Channel: "Wir warten auf das Erdbeben wie die Schafe auf die Schlacht."

Angesichts der Kritik der Menschen, die sich auch in privaten Posts in den sozialen Medien äussert, warnte Präsident Recep Tayyip Erdogan davor, das Beben für politische Zwecke auszunutzen. Solche Tage seien nicht dazu da, "Politik zu machen", sondern sich an die "Einheit und Brüderlichkeit" zu erinnern. Er wolle an solch sensiblen Tagen nicht diskutieren und sehe das als "Respektlosigkeit gegenüber dem Volk". "Unser grösster Trost ist, dass wir keine Toten zu beklagen haben."

Versorgung der Bewohner läuft an

Laut Staatssender TRT Haber hat der Türkische Rote Halbmond in den Sammelunterkünften bislang Lebensmittelhilfen für 350.000 Menschen bereitgestellt. Wie die Hilfsorganisation mitteilte, sind derzeit 3.000 Freiwillige und Mitarbeiter mit mehr als 100 Verpflegungsfahrzeugen im Einsatz. Mehr als 100.000 Menschen haben mittlerweile in Notunterkünften in Moscheen, Schulen und Logistiklagern Zuflucht gefunden.

Deutsche Touristen kaum betroffen

Deutsche Touristen sind nach Einschätzung des Deutschen Reiseverbandes von der Situation bislang kaum betroffen. Veranstalter wie TUI oder Dertour berichteten, dass nur wenige Gäste in Istanbul vor Ort seien. Mit diesen sei man im Kontakt. In den klassischen Urlaubsgebieten an den Küsten herrsche weiterhin keine Gefahr. Von massenhaften Stornierungen auch für die kommenden Tage sei bislang nichts zu spüren. Dertour bietet für Istanbul-Reisen bis einschliesslich kommenden Freitag (2. Mai) kostenlose Umbuchungen und Stornierungen an. (dpa/bearbeitet von phs)