Fast eine Woche nach dem Tod eines 17-Jährigen und den anschliessenden Ausschreitungen kommt Frankreich langsam zur Ruhe. Jetzt müssen die Ereignisse aufgearbeitet werden. Und die nächsten Sorgen lassen angesichts der Tour de France nicht lange auf sich warten.
Nach den tagelangen Krawallen in Frankreich infolge des tödlichen Schusses eines Polizisten auf einen 17-Jährigen hat sich die Lage in der Nacht zum Montag offenbar etwas beruhigt. Nach Angaben des Innenministeriums wurden keine grösseren Vorfälle gemeldet, bis 1.30 Uhr wurden landesweit 78 Festnahmen gezählt. Präsident Emmanuel Macron will sich wegen der Ereignisse mit den Parlamentspräsidenten beraten. Angesichts Dutzender Angriffe auf Rathäuser sowie mindestens ein Wohnhaus eines Bürgermeisters rief die Vereinigung der Bürgermeister derweil zu Solidaritätskundgebungen auf.
Macron will sich mit Präsidentin der Nationalversammlung und Bürgermeistern treffen
Nach Angaben des Élysée-Palasts wird Macron am Montag die Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, und den Präsidenten des Senats, Gérard Larcher, empfangen. Am Dienstag sei dann ein Treffen mit den Bürgermeistern von mehr als 220 Gemeinden, in denen es Ausschreitungen gegeben habe, geplant. Macron habe zudem Premierministerin Elisabeth Borne gebeten, am Montag die Vorsitzenden der Fraktionen im Parlament zu empfangen.
Macron wolle mit einer "sorgfältigen und längerfristigen Arbeit beginnen, um die Gründe, die zu diesen Ereignissen geführt haben, gründlich zu verstehen", erklärte das Präsidialamt. Die Regierung wolle erst die Ereignisse analysieren und dann Schlussfolgerungen ziehen. Neben Macron und Borne nahmen sieben Ministerinnen und Minister an dem Krisentreffen am Sonntagabend teil. Binnen 48 Stunden soll die nächste Krisensitzung stattfinden.
Die Vereinigung der Bürgermeister Frankreichs rief für Montagmittag zu Solidaritätskundgebungen vor allen Rathäusern des Landes auf. Seit Dienstag seien 150 Rathäuser oder Gemeindegebäude angegriffen worden, sagte der Verbandsvorsitzende David Lisnard.
Tausende Sicherheitskräfte im Einsatz – viele Verletzte
Die dritte Nacht in Folge waren landesweit 45.000 Sicherheitskräfte im Einsatz. In den fünf vorhergehenden Nächten wurden laut Innenministerium insgesamt rund 5.000 brennende Autos, 10.000 brennende Mülleimer, fast 1.000 in Brand gesetzte oder beschädigte Gebäude sowie 250 Angriffe auf Polizeiwachen gezählt.
Mehr als 700 Sicherheitskräfte wurden verletzt. In Paris wurden zwei Polizisten von "Bleikugeln ähnelnden" Geschossen getroffen, wie es aus Polizeikreisen heisst. Im südfranzösischen Nîmes überlebte ein Polizist einen Schusswaffenangriff in der Nacht zum Samstag nur dank seiner kugelsicheren Weste.
Der 17-jährige Nahel M. war am Dienstag von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre erschossen worden. Die Beisetzung des Jugendlichen, dessen Familie aus Algerien stammt, fand am Samstag in seiner Heimatstadt Nanterre statt. Der mutmassliche Schütze befindet sich in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Totschlags gegen ihn.
Seit Nahels Tod kam es vor allem in Pariser Vorstädten, aber auch in vielen anderen Städten und Gemeinden zu gewaltsamen Protesten, die zuletzt etwas nachliessen. Die Grossmutter des Opfers hatte am Sonntag zur Beendigung der gewaltsamen Proteste aufgerufen.
Anschlag auf Haus eines Bürgermeisters
Für Entsetzen sorgte am Sonntag ein nächtlicher Anschlag auf das Haus des Bürgermeisters der im Grossraum Paris liegenden Gemeinde L'Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen "Mordversuchs". Nach Angaben der Staatsanwaltschaft drang ein brennendes Fahrzeug auf das Grundstück vor. Offenbar sollte es das Haus in Brand setzen. Es wurde jedoch laut der Staatsanwaltschaft von einer kleinen Mauer gestoppt.
Zu dem Zeitpunkt hielt sich Jeanbrun wegen der Unruhen im Rathaus auf, doch seine Frau und seine beiden fünf und sieben Jahre alten Kinder schliefen in dem Haus. Sie flüchteten in Panik, wobei sich seine Frau das Schienbein brach und operiert werden musste.
"Es gibt keinen Zweifel, dass sie das Haus abbrennen wollten", sagte Jeanbrun im Fernsehen. "Und als ihnen klar wurde, dass jemand darin ist, haben sie nicht etwa aufgehört, sondern eine Salve Feuerwerkskörper gezündet, völlig verrückt", sagte er.
Am Sonntagabend teilte das Rathaus der Gemeinde Charly südlich von Lyon mit, dass am Morgen am Haus des Bürgermeisters etwas gefunden worden sei, das "zweifellos" dazu bestimmt gewesen sei, einen Brand auszulösen.
Die anhaltenden Unruhen haben Macrons Regierung nach den Protesten der Gelbwesten und gegen seine Rentenreform in eine weitere schwere Krise gestürzt. Am Samstag sah sich der Präsident gezwungen, seinen ab Sonntag geplanten Staatsbesuch in Deutschland abzusagen.
Feuerwehrmann kommt ums Leben
Am Rande der Proteste in Frankreich ist in der Nacht zu Montag ein junger Feuerwehrmann ums Leben gekommen. Wie Innenminister Gérald Darmanin im Onlinedienst Twitter mitteilte, starb der 24-Jährige in Saint-Denis nördlich von Paris beim Löschen brennender Fahrzeuge in einer Tiefgarage "trotz der schnellen Hilfe seiner Mannschaftskameraden".
Derzeit werde ermittelt, wie es zu dem Brand der Fahrzeuge gekommen sei, fügte Darmanin hinzu. Der Minister stellte zunächst keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Feuer und den gewaltsamen landesweiten Protesten her.
Verkehrsminister Clément Beaune teilte mit, seine Gedanken seien bei den Einsatzkräften, die "Tag und Nacht für eine Rückkehr zur Ruhe im Einsatz sind".
Sicherheitssorgen bei der Tour de France
Die Unruhen in Frankreich haben auch Einfluss auf Sport und Kultur. So wachsen mit der Rückkehr in die Heimat bei der Tour de France die Sicherheitssorgen. Die Unruhen könnten spätestens bei der am Freitag in Bordeaux endenden siebten Etappe auch das wichtigste Sportereignis der Grande Nation betreffen. "Wir verfolgen die Entwicklung genau und sind in ständigem Austausch mit dem Innenministerium", sagte Tour-Direktor Christian Prudhomme.
So reagiert die Tour: Die Tour-Organisation Aso will die Sicherheitsvorkehrungen während der Etappen erhöhen. Diese Massnahmen wurden nur teilweise mit Bezug auf die Unruhen vollzogen. Die Aso ist zudem beunruhigt, dass Klimaaktivisten das Rennen für schlagzeilenträchtige Aktionen nutzen könnten. In der Vergangenheit gab es immer mal wieder Strassenblockaden. Meistens konnten diese jedoch entfernt werden, bevor das Peloton die jeweiligen Stellen erreichte.
So reagieren die Fahrer: Im Feld ist die Lage in Frankreich kein wirklich grosses Thema. Die Profis bekommen die Nachrichten zwar mit, sind aber ansonsten im Tour-Tunnel. Lediglich unter französischen Profis ist die Lage in der Heimat präsenter. "Wir sind im Baskenland und fahren Rennen. Doch nur, weil man ein Radsportler ist, ist man nicht auch ein Bürger. Wir sind in einer problematischen Situation", sagte Simon Geschkes Kapitän Guillaume Martin. Aus der Sicht der Teams liegt dieses Thema generell bei der Aso. Sie sei in der Verantwortung, einen reibungslosen Ablauf der Tour zu gewährleisten.
Mode-Schauen sollen stattfinden
Die Krawalle in Frankreich überschatten auch die Haute-Couture-Schauen in Paris. Das Modehaus Celine sagte ein für Sonntagabend geplantes Defilee ab. Celine-Chefdesigner Hedi Slimane erklärte, angesichts der "ungewissen Entwicklung dieser sehr schweren Unruhen" wäre es "unüberlegt und total deplatziert", in Paris eine Modenschau zu veranstalten, obwohl Frankreichs Hauptstadt und das ganze Land "so in Trauer und gebeutelt" seien.
Wegen der Krawalle wurden am Wochenende diverse Veranstaltungen wie etwa Pop-Konzerte abgesagt. Der französische Mode-Verband teilte am Sonntagnachmittag jedoch mit, dass die Haute-Couture-Schauen "wie vorgesehen" von Montag bis Donnerstag stattfänden, wenn es von den Behörden keine anderweitigen Anordnungen gebe. (afp/dpa/the)
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