Wackelt in der Coronavirus-Krise auch das chinesische Regime? Danach sieht es nicht aus, erklärt der China-Forscher Daniel Fuchs von der Humboldt-Universität Berlin. Dass es Kritik gibt, überrascht ihn nicht – aber sie richte sich gar nicht gegen die Staatsführung.

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Der Unmut der Chinesen ist gross und bricht sich in den sozialen Netzwerken Bahn – und damit könnte die Corona-Krise auch zu einem Problem für die autoritär regierende Kommunistische Partei in China werden.

So zumindest die These, die gerade in westlichen Medien diskutiert wird. Der China-Forscher Daniel Fuchs, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der HU Berlin, mahnt im Interview mit diesem Portal zur Differenzierung: Die Kritik richte sich nicht gegen Peking, sondern gegen lokale Funktionäre.

Ausserdem erklärt Fuchs, wie weit die Zensur reicht – und wo die Roten Linien für die Kritik liegen.

Die Regierung hat den Premier Li Keqiang quasi als Krisenmanager nach Wuhan entsandt. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Coronavirus-Krise in der Führungsriege mit Sorge betrachtet wird?

Daniel Fuchs: Definitiv. Chinas Partei- und Staatsführung beobachtet die Situation mit grosser Sorge und setzt nun – nach mehreren Wochen, in denen die Gefahr in staatlichen Medien relativiert wurde - alle verfügbaren Ressourcen im Kampf gegen das Virus ein. Am chinesischen Neujahrstag wurden sogar Aufnahmen einer Krisensitzung des Politbüros, des höchsten Führungsgremiums der Kommunistischen Partei, im staatlichen Fernsehen übertragen.

Das kommt nur in besonderen Krisenfällen vor. Dort hat Präsident Xi Jinping die Funktionäre aufgerufen, energischere Massnahmen zu ergreifen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Sie haben die Ernsthaftigkeit der Lage erkannt und kommunizieren diese nun auch.

Der China-Experte Kerry Brown vom King's College hat gesagt, diese Krise habe das Potenzial, die Legitimität des Regimes anzukratzen. Sehen Sie das auch so?

Ich würde zustimmen. Wir haben es mit einem System zu tun, in dem sich Legitimität nicht auf Wahlen gründet. In der Forschung hat sich der Begriff "performanzbasierte Legitimität" durchgesetzt: Sie stützt sich auf den Output, vor allem auf die ökonomische Entwicklung – Wirtschaftswachstum, die Einbindung der wachsenden Mittelklasse. Aber auch auf den Umgang mit regionalen und nationalen Krisensituationen wie etwa dem Erdbeben in Sichuan 2008.

Umgekehrt wirkt sich schlechtes Krisenmanagement wie im Falle der SARS-Epidemie 2002 bis 2003 negativ auf das Vertrauen der Bevölkerung aus. Also ist der Umgang mit dem Coronavirus tatsächlich eine grosse Herausforderung für die Legitimität, und die politische Führung versucht zu demonstrieren, dass sie aus vergangenen Fehlern gelernt hat.

Aber auf der anderen Seite gibt es medial eine Tendenz zur Überinterpretation: Da wird oft geschrieben, dass die Legitimität der Zentralregierung unter Führung von Xi Jinping infrage gestellt wird. Das sehe ich momentan noch nicht.

Aber viele Chinesen sind verunsichert, teils unzufrieden, das kann man auch von aussen beobachten. Wo suchen sie die Schuld, wenn nicht bei der Staatsführung?

Der chinesische Staat ist durch ein hohes Level an Dezentralisierung gekennzeichnet, also einer gewissen Autonomie auf lokaler Ebene, für Städte und Provinzen und die dortige Führung. Dieser Aspekt ist für das Verständnis der Kritik aus der Bevölkerung wichtig. Ich habe in den letzten Wochen die chinesischen sozialen Netzwerke verfolgt: Wenn Kritik an der Informationspolitik oder dem Krisenmanagement geäussert wird, zielt sie nicht auf die Zentralregierung, sondern auf lokale Beamte und die Art und Weise, wie in Wuhan und der Provinz Hubei agiert wird. Zumindest bis jetzt, der Prozess ist ja nicht abgeschlossen.

Sie beschäftigen sich vor allem mit Arbeitskämpfen in China – beobachten sie dort das gleiche Muster? Äussert sich Kritik in China quasi nur lokal?

Genau. Das gilt auch für Umweltproteste oder ländliche Proteste. Ich kenne nur wenig Fälle, wo Xi Jinping unmittelbar in Verantwortung genommen wurde. Umgekehrt wird die Zentralregierung als die Instanz gesehen, die eingreifen muss. Die Logik ist: Wenn die Zentralregierung Bescheid wüsste, dass etwa Arbeitsgesetze nicht eingehalten werden, würde sie die lokalen Funktionäre zur Verantwortung ziehen - also müssen wir die Missstände nach Peking weitergeben. Das zeigt das Vertrauen in die Zentralregierung.

Im Internet bleibt der Unmut aber nicht lokal, er kann überall gelesen werden. Hat es sie überrascht, wie viel man davon doch mitbekommt?

Nein, solche Meinungsäusserungen und kritischen Meldungen stellen keine Besonderheit dar. Das hat es immer wieder gegeben. Ich finde eher interessant, dass es offenbar innerhalb der Partei Auseinandersetzungen darüber gibt, wie man damit umgehen soll. In Wuhan wurden beispielsweise Anfang Januar acht Menschen in Polizeigewahrsam genommen, weil sie online Gerüchte verbreitet haben sollen - mittlerweile haben jedoch höhere Stellen interveniert und gesagt: So kann man nicht mit der Kritik umgehen, man muss das ermöglichen.

Wir sprechen von Zensur meist nur aus der Perspektive der Repression. Dabei wird oft vergessen: Man darf nicht alles sagen, klar - aber gewisse Räume existieren als Ventil, um öffentlichen Unmut publik werden zu lassen, weil es ja bestimmte Kanäle nicht gibt, die in demokratischen Systemen üblich sind. Einige ForscherInnen sprechen von einem Feueralarm-System, das den Beamten zeigt, wo Probleme liegen. Deswegen existiert in China auch keine vollständige, durchgehende Zensur von Kritik an Staat und Partei.

Wissen die chinesischen Bürger genau, was sie online sagen dürfen, und was nicht?

Personen, die zivilgesellschaftlich organisiert sind, haben durchaus eine gewisse Erfahrung entwickelt. Die wissen auch, wo die roten Linien liegen. Aber allgemein muss man das ständig ausloten.

Und eine klare rote Linie gibt es: Online-Kommunikation, die auf eine Offline-Organisierung oder eine verstetigte Form der Organisierung über das Netz hinaus verweist, die wird definitiv immer zensiert.

Wie hoch schätzen Sie das Potenzial, dass sich aus dem Unmut über die Coronavirus-Krise eine Art öffentlicher Protest entwickelt?

Ich halte das für höchst unwahrscheinlich. Ein Grund liegt auf der Hand: Die Quarantäne und die Ansteckungsgefahr machen es unwahrscheinlich, dass Personen sich zusammenfinden, um zu demonstrieren. Aber auch wenn das Ganze in zwei Monaten eingedämmt sein sollte und die Frage steht, was mit dem angestauten Unmut passiert, glaube ich nicht, dass organisierter Protest stattfindet.

So etwas kommt vor in China, zum Beispiel gegen Luftverschmutzung oder den Bau von Chemiefabriken. Aber es war immer ein konkreter Anlass und lokal beschränkt.

Nochmal: Bei der Medienberichterstattung bekommt man fast den Eindruck, als stünde die chinesische Führung unter starker Kritik. Aber bis dato ist das nicht der Fall. Da muss man differenzieren: Der Unmut fokussiert sich auf die lokale Ebene. Die Zustimmungswerte von Xi Jinping sind sehr hoch. Er gibt sich als Mann des Volkes, hat sich durch eine Anti-Korruptionskampagne ein gutes Standing erarbeitet und ist einer der mächtigsten politischen Führer seit Jahrzehnten. Wenn die Eindämmung nicht gelingt, wenn die Zentralregierung sich als unfähig erweist, kann sich das ändern, ich möchte nicht ausschliessen, aber momentan weist nichts darauf hin.

Also ist der Coronavirus nicht Chinas "Tschernobyl", die Nuklearkatastrophe, die Michail Gorbatschow oft als den Anfang vom Ende der Sowjetunion bezeichnet hat, weil das Regime merkte, dass es sein Informationsmonopol verloren hatte?

Ich kenne dieses Beispiel, in China werden in sozialen Netzwerken diese Parallelen gezogen. Aber ich sehe den Verlust der staatlichen Hegemonie im Bereich Informationspolitik nicht. Eher umgekehrt: Viele Informationen kursieren über WeChat und Weibo, und der Staat verfeinert seine Fähigkeiten stetig weiter, um entscheidend auf den Fluss der Informationen einzuwirken. Ich sehe im Moment nicht, dass das Regime die Kontrolle verliert, nein.

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Das Coronavirus breitet sich immer weiter aus. In Spanien gibt es erstmals einen Fall - einen Deutschen auf La Gomera. (Bild: imageBROKER/Martin Siepmann/imago) © ProSiebenSat.1
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