- Die Aktivistin Jasmina Kuhnke war zuletzt Zielscheibe: Das Netzwerk "Sifftwitter" veröffentlichte die Adresse der Comedyautorin und rief zum Mord auf.
- Eine Trollarmee aus hunderten Accounts koordiniert dabei gezielte Angriffe.
- Eine Expertin erklärt, welche Gefahr von dem Netzwerk ausgeht. Auch das Bundeskriminalamt nimmt Stellung.
"Massakriert Jasmina Kuhnke" – mit diesen Worten wurde die Adresse der Comedyautorin und Aktivistin Jasmina Kuhnke auf Twitter veröffentlicht. Die 39-Jährige, die unter dem Synonym "Quattromilf" twittert, sah sich daraufhin gezwungen, mit ihrer Familie umzuziehen und unterzutauchen.
Dass der Umgangston in den sozialen Netzwerken rau ist, ist allgemein bekannt. Auch Kuhnke schlug in der Vergangenheit schon häufiger Hass entgegen – setzt sie sich doch seit Jahren gegen Menschenfeindlichkeit und Rassismus ein. Doch die jetzige Veröffentlichung ihrer Adresse zusammen mit einem Mordaufruf stellt einen Höhepunkt rechter Hetze dar. Der Vorfall soll auf das Konto des Netzwerkes "Sifftwitter" gehen. Was aber steckt dahinter?
Hunderte Trollaccounts
Schon ein Umstand zeigt, wie gefährlich das Netzwerk eingeschätzt wird: Die Expertin, die mit unserer Redaktion gesprochen hat, möchte nicht mit Klarnamen genannt werden. Wir zitieren sie deshalb unter dem Pseudonym Milla Frühling.
Die Soziologin und Buchautorin beschäftigt sich seit Jahren mit rechten Netzwerken. Sie sagt: "'Sifftwitter' ist eine stolz vor sich her getragene Selbstbezeichnung. Es handelt sich um ein lose miteinander verknüpftes Netzwerk aus mehreren hundert Trollaccounts, das seine Wurzeln im systematischen Online-Mobbing des YouTubers 'Drachenlord' hat, mit bürgerlichem Namen Rainer Winkler".
Twitter sei für das Netzwerk nicht die einzige Plattform, die Trolle hielten sich auch auf Foren wie "Drachenschanze" oder "Kohlchan" auf und betrieben sogenannte Discord-Server, also eigene Text- und Sprachkanäle.
Gezielte Angriffe auf einzelne Personen
"Sie koordinieren gezielte Angriffe und Hasskampagnen gegen ihnen unliebsame Personen - primär Linke, Frauen, Transpersonen, People of Colour", sagt Frühling. Die Comedienne und antirassistische Aktivistin Jasmina Kuhnke sei die jüngste Zielscheibe gewesen.
"Der Online-Mob hat sie systematisch angegriffen, ihre Adresse herausgefunden, sie gedoxxt (dabei werden personenbezogene Daten veröffentlicht, Anm. d. Red.) und bedroht. Für die ist das eine lustige Freizeitbeschäftigung", sagt Frühling. Es sei das Hobby der Trolle, "all jenen, die ihnen nicht in das reaktionäre Weltbild passen, das Leben zu ruinieren", so die Expertin.
Sie kennt die Vorgehensweise von "Sifftwitter": "Sobald ein Feindbild ausgemacht worden ist, wird es systematisch von dutzenden bis hunderten Accounts angegriffen, oftmals unter eigens für diesen Shitstorm konzipierten Hashtags", sagt Frühling. Da diese Accounts einander folgten und auch ausserhalb von Twitter miteinander vernetzt seien, dauere es nicht lang, bis ein Shitstorm initiiert sei.
Ziel: Andere verletzen
"Im Falle von Kuhnke hat zudem der tendenziell rechtsextreme Trollmob gemeinsam mit grossen bürgerlich-rechten Accounts gegen die Betroffene Stimmung gemacht", analysiert die Soziologin. In der Regel sei bereits potentiell belastendes Material über die Person gesammelt worden, die man sich zum Opfer auserkoren habe – etwa Screenshots alter Tweets.
"Es werden Accounts gegründet, die gezielt gegen das Opfer gerichtet sind und zum Ziel haben, dieses zu verletzen", erklärt Frühling. Die Trollarmee greife Menschen in der Regel dort an, wo sie am verletzlichsten seien: "Von Trans-Personen wird der Deadname (der alte, nicht mehr verwendete Vorname, Anm. d. Redaktion) oder Bilder von vor der Transition veröffentlicht, People of Colour werden rassistisch attackiert, Juden antisemitisch, Frauen als Frauen", sagt die Expertin.
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40 Pizzalieferungen am Tag
Für die Betroffenen sei das ausgesprochen belastend. Damit erreicht "Sifftwitter" sein Ziel: "Es geht darum, Personen zu zermürben. Besonders drastisch ist es, wenn diese Bedrohungen die virtuelle Sphäre verlassen", sagt Expertin Frühling.
In Kuhnkes Fall ist genau das passiert: Im Rahmen eines rassistischen Videos gab der Twitter-Mob ihre Adresse preis. In der Folge erhielt sie Hassnachrichten per Post. Und es wurden an einem Abend 40 Pizzalieferungen auf ihren Namen bestellt, um zu zeigen: Wir wissen, wo du wohnst.
Ein solches Vorgehen nennt Frühling sadistisch. "Der Soziologe Michael Kimmel analysiert in seinem Buch 'Angry White Men', dass die Psychologie von Trollen denen von klassischen Sadisten nicht unähnlich ist - sie empfinden genuinen Spass daran, anderen Menschen Leid zuzufügen", sagt sie.
"Warnung" an andere Aktivisten
Leid zuzufügen sei online wesentlich einfacher, weil man nicht mit einer realen Person konfrontiert sei und sich vom Prozess der Gewaltausübung gedanklich leichter distanzieren könne. "Hinzu kommt ein massenpsychologisches Moment: Wenn man im Mob agiert, fühlt man sich von der Macht des Kollektivs berauscht und in seinem Handeln bestätigt", erklärt Frühling.
Die Shitstorms dienten nach dem Motto "Du könntest die Nächste sein, wenn du das Maul zu weit aufreisst und dich mit uns anlegst" als "Warnung" an andere Aktivisten und Aktivistinnen. "Deshalb wird auch so wenig über diese Strukturen berichtet: die Drohsituation ist sehr gross", sagt Frühling.
Letztendlich gelte es sich jedoch vor Augen zu halten, dass es sich bei den Tätern um "verrohte Menschen" handele, die "Lust aus der nicht nur virtuellen Gewalt ziehen und darüber sogar ihre ganze Identität aufbauen".
Twitter gehe nur ungenügend gegen die Accounts und ihre Kampagnen vor, sodass Betroffenen nur die Möglichkeit bleibe, die Accounts zu blockieren. In den Augen des Netzwerks sei das eine "Trophäe". Frühling sagt: "Dann wird sich jedoch ein neuer Account erstellt und das Opfer weiter bedroht."
Sie plädiert deshalb für ein konsequenteres Vorgehen – zum Beispiel einen dauerhaften Ausschluss entsprechender Seiten, auf denen sich Mobs abseits von Twitter organisieren. Es brauche auch effektivere Massnahmen gegen Hatespeech im Netz, sowie Bildungsarbeit gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.
Was das BKA in Deutschland tut
Das Bundeskriminalamt (BKA) bezeichnet die Aktionen von "Sifftwitter" als Beispiel "für die aktuellen Herausforderungen bei der Bekämpfung der politisch motivierten Kriminalität im Internet". Eine Sprecherin des BKA teilt mit: "Entsprechende Sachverhalte aus diesen Kontexten, die der Polizei bekannt werden, werden selbstverständlich geprüft und bei Vorliegen von gefährdungsrelevanten Momenten oder strafrechtlich relevanten Inhalten verfolgt".
Um der Verbreitung von Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken wirksam entgegenzutreten, bedürfe es einer gemeinsamen gesellschaftlichen Anstrengung – eine massgebliche Bedeutung komme dabei dem Gesetz zur "Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität" zu, welches am 1. April 2021 in Kraft trat.
Zentrale Meldestelle im Aufbau
"Demnach werden Anbieter sozialer Netzwerke mit mindestens 2 Millionen registrierten Nutzern in Deutschland ab dem 1. Februar 2022 dazu verpflichtet, strafbare Inhalte – insbesondere Hasskriminalität mit rechtsextremistischem Hintergrund sowie kinderpornografische Inhalte - nicht mehr nur zu löschen und zu sperren, sondern aktiv dem BKA zu melden", erklärt die Sprecherin.
Zur Entgegennahme und Bewertung dieser Meldungen richte das BKA derzeit eine "Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) " ein. "Nach Entgegennahme entsprechender Meldungen wird die ZMI deren strafrechtliche Relevanz und eventuelle Gefährdungssachverhalte prüfen und die im Einzelfall zuständige Staatsanwaltschaft ermitteln, um den jeweiligen Vorgang an die örtlich zuständige Landesbehörde zur Strafverfolgung weiterzuleiten", so die Sprecherin. Hierzu befinde sich das BKA derzeit in Abstimmung mit weiteren beteiligten Behörden und Partnern.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Milla Frühling
- Anfrage beim Bundeskriminalamt
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