Der westafrikanische Senegal erlebt die schwersten Unruhen seit mehr als zwei Jahren. Seit vergangenem Donnerstag sollen mindestens 16 Menschen ums Leben gekommen sein. 357 Menschen wurden nach Angaben der Tageszeitung "Tribune" (Montagausgabe) verletzt. Bei den Zusammenstössen zwischen Polizei und Demonstranten sei auch öffentliches und privates Eigentum zerstört worden. So schreibt die Zeitung "Le Soleil" (Montagausgabe) von 500 Festnahmen und Plünderungen. Es seien Kriegswaffen eingesetzt worden.
Caroline Hauptmann, Leiterin des Auslandsbüros Senegal, spricht im Gespräch mit der Redaktion von "brutalen Szenen, die lokal begrenzt, aber in verschiedenen Regionen" zu beobachten seien. Auf Videos und Fotos ist beispielsweise zu sehen, wie am Donnerstagnachmittag Teile der staatlichen Universität der senegalesischen Hauptstadt und ein Bahnhof im Grossraum Dakar in Brand gesetzt und verwüstet wurden. Zu sehen ist auch, wie Uniformierte in Gruppen einzelne Personen misshandeln. Es gibt Berichte über bewaffnete Männer in Zivil, die sich als vermeintliche Provokateure unter die Demonstranten mischen. "Schulen und die Universität waren daraufhin als Vorsichtsmassnahme bis auf weiteres geschlossen", sagt Hauptmann. Einige Messengerdienste wurden vorübergehend eingestellt. "Mittlerweile sind Teile des Internet blockiert", erklärt Hauptmann weiter.
Besonders betroffen waren die öffentlichen Verkehrsmittel des Transportunternehmens DEM DIK. Darunter auch die Haltestellen und Baustellen der neuen elektrischen Stadtbahnlinie BRT, die demnächst in Betrieb gehen soll. Gleiches gilt für "öffentliche Serviceeinrichtungen wie Bürgerämter und Privathäuser von Politikern aller Parteien", weiss Hauptmann aus Dakar zu berichten. Das öffentliche Leben, insbesondere in Dakar, kam nach Augenzeugenberichten am Donnerstag und Freitag zeitweise zum Erliegen. Inzwischen hat sich das Leben wieder normalisiert. Die politische Lage bleibt jedoch angespannt und aufgeheizt. Der Senegal hat am Montag um die Opfer getrauert.
Politisierte Justiz im Senegal: Oppositionskandidat vor Gericht
Doch hinter den jüngsten Gewaltexzessen, für die die Regierung "okkulte Kräfte" auch aus dem Ausland verantwortlich macht, steckt mehr. Es geht vor allem um die Frage, ob Macky Sall entgegen der ursprünglichen senegalesischen Verfassung bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ein drittes Mal kandidieren wird. Bislang hüllt er sich in Schweigen, ob er tatsächlich noch einmal antritt. "Es ist natürlich auch in seinem Interesse, das zu einem spätmöglichsten Zeitpunkt zu tun", sagte Claudia Ehing, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Dakar, kürzlich gegenüber der Redaktion. Im Parlament hat der 61-Jährige bereits eine entsprechende Verfassungsänderung auf den Weg gebracht, der Text wird derzeit vom Verfassungsgericht geprüft. "Das ist der Hintergrund der derzeitigen Unruhen", erklärt Hauptmann. Fakt ist aber auch, dass Salls Schweigen massgeblich zu den Unruhen beigetragen hat, die seit 2021 rund 40 Todesopfer gefordert haben.
Konkreter Auslöser der für das eigentlich friedliche Senegal eher untypischen Unruhen ist ein Urteil, das von der Jugend und anderen Teilen der Bevölkerung als politisch motiviert wahrgenommen wird. Der bei der Jugend beliebte Oppositionsführer und aussichtsreichste Gegenkandidat von Präsident Macky Sall bei den Präsidentschaftswahlen 2024, Ousmane Sonko, wurde nach einem Vergewaltigungsprozess zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Damit ist er von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen. Zudem muss Sonko eine Geldstrafe von umgerechnet 915 Euro zahlen. Sonko wurde zwar von den beiden Hauptanklagepunkten Vergewaltigung und Morddrohung freigesprochen, aber wegen "Verführung von Jugendlichen unter 21 Jahren" verurteilt.
Dem mutmasslichen Opfer und Nebenklägerin, der vor knapp zweieinhalb Jahren noch 20 Jahre alten Masseurin Adji Sarr, die Sonko vor mehr als zwei Jahren im Schönheitssalon "Sweet Beauté" verführt haben soll, muss er rund 30.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Adji Sarr gilt unter Sonkos Anhängern als Marionette der Regierung, die Sonko nun zu Fall bringen soll. Da Ousmane Sonko dem Prozess von Anfang an ferngeblieben war, "kann es auch keine Berufung geben. Das Urteil ist endgültig", sagt Hauptmann. Es fällt ihr schwer, das "Verdikt" zu bewerten. "Es ist kontrovers, denn einerseits ist es zur ursprünglich geforderten Strafe ein eher mildes Urteil, andererseits ist Sonko in den beiden Hauptanklagepunkten freigesprochen worden."
Der senegalesische Journalist Coumba Ndoffène zeigte sich "überrascht von dem Urteil." Ndoffène: "Wenn die Grundlage der Anklage vom Gericht nachweislich abgelehnt wird, ist es doch verwunderlich, dass er dennoch verurteilt wird." Sarr sei vom Gericht disqualifiziert worden. Sie stehe als Lügnerin da. Rechtlich hätte Sonko also rehabilitiert werden müssen. Sonkos Anhänger und Teile der senegalesischen Öffentlichkeit gehen von einem staatlichen Komplott aus, um einen politischen Gegner auszuschalten.
Nach der Urteilsverkündung am Donnerstagnachmittag kam es zu Ausschreitungen in Dakar und in Sonkos südsenegalesischer Heimatstadt Ziguinchor, wo er Bürgermeister ist. "Die Unruhen haben unmittelbar danach begonnen, es gab ziemlich wüste Szenen", sagt Hauptmann.
Ousmane Sonko: Anwalt der frustrierten Jugend
Es waren Szenen wie vor mehr als zwei Jahren. Im Frühjahr 2021, auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie, rebellierte die perspektivlose Jugend gegen die Verhaftung bzw. vorübergehende Inhaftierung von Sonko nach der Vergewaltigungsanzeige der Masseurin Sarr, deren Namen inzwischen fast jeder Senegalese kennt. Zwischen dem 3. und 5. März 2021 erlebte das an sich stabile und demokratische frankophone Land einen der gewalttätigsten Aufstände seiner Geschichte. 13 Zivilisten, darunter sehr junge Menschen, verloren bei den Protesten ihr Leben. Hunderte Menschen, Demonstrierende wie auch Sicherheitskräfte, wurden verletzt. Der Staat liess die Armee in die Hauptstadt einmarschieren, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Die materiellen Schäden waren immens.
Die plötzliche Gewalt im ganzen Land ist nicht nur auf die kurze Untersuchungshaft von Ousmane Sonko zurückzuführen, sondern auch auf die soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit, unter der die senegalesische Bevölkerung in den letzten Jahren zu leiden hatte. Diese hält in einem der ärmsten Länder der Welt bis heute an.
Der heute 48-jährige Oppositionsführer, der das Land seit Monaten nicht verlassen darf, kam bei den letzten Präsidentschaftswahlen auf den dritten Platz. Inzwischen ist er zur wichtigsten Oppositionsfigur geworden, nachdem sich der zweitplatzierte Idrissa Seck der Präsidentenmehrheit angeschlossen hat. Sonko, zugleich Vorsitzender der Partei PASTEF (Afrikanische Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Familie), ist Hoffnungsträger und "Anwalt" der frustrierten Jugend Senegals, die immer wieder für internationale Schlagzeilen sorgt.
Der verurteilte Sonko, der inzwischen wieder unter Hausarrest steht und streng bewacht wird, und seine Partei geben sich derweil kämpferisch. Der "Widerstand" müsse nun erst recht "verstärkt und intensiviert" werden, bis Macky Sall zurücktrete, sagt Abdou Diagne, Pastef-Mitglied aus Deutschland, im Gespräch mit unserer Redaktion.
"Die Instrumentalisierung der Justiz"
Laut Diagne hat die Demokratie in letzter Zeit stark gelitten. "Der Senegal ist nicht mehr das, was er einmal war." Unabhängig vom Ausgang des Prozesses, so Ehing, "hat die Justiz im Ansehen der Bevölkerung grossen Schaden genommen".
"Die Ausschaltung von politischen Gegnern durch die Instrumentalisierung der Justiz ist eines der besonderen Merkmale des Regimes von Macky Sall", schreibt der senegalesische Journalist Boubacar Diop in einer Analyse über die Unruhen von 2021. Wichtige Mitglieder der senegalesischen Opposition sassen bereits im Gefängnis. Die bekanntesten sind Karim Wade, Sohn des ehemaligen Präsidenten und Spitzenkandidat der Demokratischen Partei Senegals, und Khalifa Sall, ehemaliger Bürgermeister von Dakar und Kandidat der Sozialistischen Partei. Auch Wade soll 2024 kandidieren, heisst es.
In einer Pressemitteilung Sonkos, die der Redaktion vorliegt, greift Sonko Macky Sall persönlich an. Er sei dafür verantwortlich, dass die Demokratie Schaden genommen habe und Sonko nicht an den Wahlen 2024 teilnehmen könne. Sall, so Sonko, unterhalte ein System der Korruption, der Straflosigkeit für schlechte Regierungsführung, der Veruntreuung öffentlicher Gelder und des Missbrauchs durch seine engsten Mitarbeiter. Mehr noch: "Er unterhält Schläger und private Milizen, die völlig ungestraft neben den Verteidigungs- und Sicherheitskräften operieren." Die Stabilität des einst so stabilen Landes ist mehr denn je gefährdet.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete und gebürtige Senegalese Karamba Diaby appelliert gegenüber unserer Redaktion "an alle Akteure im Land, zu deeskalieren und ihre Kräfte auf den politischen Dialog statt auf Gewalt zu konzentrieren".
Verwendete Quellen:
- Presseanfrage an Karamba Diaby vom 5. Juni 2023
- Gespräch mit Claudia Ehing und Caroline Hauptmann sowie Abdou Diagne und Coumba Ndoffène
- seneweb.sn: "Retour sur une journée de chaos"
- aswnet.de: "Proteste im Senegal - die Jugend ist frustriert"
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