Schleppender Ausbau, überlastete Netze: Im ersten Quartal 2019 zahlte die Bundesnetzagentur rund 364 Millionen Euro an Betreiber von Windkraftanlagen - für Strom, der nie produziert wurde. Das Phänomen "Geisterstrom" belegt die Probleme der deutschen Energiewende.
Die Stromrechnung ist für viele Deutsche ein Anlass zum Ärger. Dafür gibt es viele Gründe: Nicht nur ist der durchschnittliche Strompreis für Privathaushalte seit der Jahrtausendwende um 118 Prozent von 13,94 auf 30,43 Cent pro Kilowattstunde gestiegen. Hierzulande werden europaweit auch die höchsten Strompreise gezahlt.
Zum weiteren Verdruss dürfte folgende Tatsache beitragen: Im ersten Quartal zahlten die Verbraucher Hunderte Millionen Euro für Strom aus Windkraftanlagen, der nie produziert wurde. Die Rede ist von "Geisterstrom".
Wie funktioniert das System der Windenergie eigentlich? Ist der "Hype" darum übertrieben und zeigt das Phänomen "Geisterstrom", dass die Energiewende in Deutschland nicht funktioniert?
Was leisten erneuerbare Energiequellen?
Zunächst die positiven Nachrichten: Vor allem im Norden Deutschlands drehen sich die Windräder kräftig. Sie speisten im ersten Halbjahr 2019 nach Daten des Fraunhofer Institutes für Solare Energiesysteme (ISE) rund 67 Terrawattstunden (tWh) in das öffentliche Netz ein und waren damit die stärkste Energiequelle – vor Braunkohle (53 tWh), Kernenergie (34,7 tWh) und Steinkohle (26,4 tWh).
Insgesamt machten erneuerbare Energiequellen, wozu auch Solaranlagen, Biomasse und Wasserkraft zählen, einen Nettostromanteil von 47 Prozent aus – nämlich rund 125 tWh bei einer Gesamtlast von etwa 245 tWh.
"Geisterstrom": Regierung gibt viel Geld aus für null Energie
Aber: 3,23 tWh traten im Zeitraum von Januar bis März ihren Weg ins Stromnetz überhaupt nicht an. Wegen überlasteter Netze mussten die Windräder zwangsweise abgeregelt werden, um einen Blackout zu vermeiden. Mit der entgangenen Strommenge liessen sich rund 100.000 Haushalte ein Jahr lang beheizen.
"Man muss die Zahl im Verhältnis zum Gesamtstromverbrauch sehen, der im gesamten Jahr bei knapp 600 tWh liegt. Es handelt sich somit um eine niedrige einstellige Grösse", relativiert Energieexperte Wolfram Axthelm. Der Agraringenieur und Betriebswirt ist Geschäftsführer beim Bundesverband WindEnergie (BWE).
Für die Betreiber der Windkraftanlagen bedeutet der abgeregelte Strom dennoch: Geld fürs Nichtstun. Und das nicht zu knapp - 364 Millionen Euro Ausfallvergütungen zahlte die Bundesnetzagentur für stillstehende Rotoren. Im ersten Quartal 2018 waren es 228 Millionen Euro. "2018 war ein aussergewöhnlich schwaches Windjahr", erklärt Axthelm den Unterschied zum Vorjahr.
Wer bezahlt für Ökostrom?
Die Rechnung zahlt vor allem der Verbraucher. Denn der Strompreis setzt sich aus Steuern und Umlagen aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), Netzentgelten sowie Beschaffung, Marge und Vertrieb zusammen.
Steuern und Umlagen stellen mit 57 Prozent den grössten Kostenblock beim Strompreis, die EEG-Umlage bildet dabei den grössten Einzelposten (6,4 Cent je kWh). Mit ihr soll der Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gefördert werden,
Wer regenerative Energie erzeugt, wie etwa die Betreiber von Windkraftanlagen, erhält für das Einspeisen von Strom eine im EEG festgelegte Vergütung. Übertragungsnetzbetreiber verkaufen den Ökostrom dann an der Strombörse - erzielen dort aber Preise weit unter den festen Vergütungssätzen. Der Differenzbetrag wird als EEG-Umlage auf den Stromendverbraucher umgelegt.
Im Schnitt macht die EEG-Umlage ein Viertel der Stromrechnung von deutschen Haushalten aus und hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht.
95 Prozent der entgangenen Einnahmen werden vergütet
Nicht nur die Kosten für die tatsächlich erzeugte regenerative Energie kommen beim Verbraucher an, sondern auch die Kosten für den Geisterstrom: Die Ausfälle werden auf den Steuerzahler abgewälzt.
Im Gesetz heisst es: "Wird die Einspeisung von Strom (...) wegen eines Netzengpasses (...) reduziert, muss der Netzbetreiber (...) die (...) betroffenen Betreiber (...) für 95 Prozent der entgangenen Einnahmen (...) entschädigen. Übersteigen die entgangenen Einnahmen (...) in einem Jahr 1 Prozent der Einnahmen dieses Jahres, sind die (...) Betreiber ab diesem Zeitpunkt zu 100 Prozent zu entschädigen."
Axthelm hält diese Regelung für vernünftig, von "Zeche zahlen" will er nicht sprechen. "Es handelt sich um Null-Komma-Centbeträge. Es ist der Preis für Versorgungssicherheit", betont er. Ohne die Regelung des EEG entstünden für die Netzbetreiber massive Unsicherheiten.
So könnte Energiewende gelingen
Das Phänomen des Phantomstroms ist jedoch Beleg für die grossen Herausforderungen, vor die die Energiewende das bestehende Stromnetz stellt.
Übertragungs- und Verteilernetze wurden vor 120 Jahren konzipiert. "In der Vergangenheit gab es eine zentrale Versorgungsstruktur, hauptsächlich mit Atomkraftwerken und fossilen Kraftwerken", erklärt Experte Axthelm.
Windkraftanlagen aber stehen dort, wo am meisten Wind weht und speisen Strom dezentral in die Netze ein. "Über 30.000 Windkraftanlagen, etwas über eine Million Solaranlagen und eine hohe Zahl von Biogasanlagen müssen in das System eingebunden werden", so Axthelm.
Die Einspeisung ist jedoch wetterabhängig, regenerativ gewonnener Strom kann nicht genau nach Kundenbedarf erzeugt werden. Bislang gibt es noch keine ausreichenden Speichermöglichkeiten. Das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch zu halten, wird dadurch immer schwieriger.
"Zur weiteren Dynamik auf dem Strommarkt werden künftig E-Autos beitragen, die auf dauerhaft verfügbare Ladesäulen angewiesen sind", weiss Axthelm.
Regierung bedient sich der falschen Instrumente
Als Reaktion auf die hohen Ausfallvergütungen hat die Bundesnetzagentur die Windkraftanlagen, die im Netzausbaugebiet (Niedersachsen und Schleswig-Holstein) neu gebaut werden dürfen, begrenzt. Wie die "Welt" schreibt, sollen ab 2020 dort nur Ausschreibungen für Windräder an Land mit einer Leistung von insgesamt 786 Megawatt Strom zugelassen werden.
Für Axthelm das falsche Instrument: "Vielmehr müssen die Türen für eine Sektorenkopplung und regionale Stromnutzung geöffnet werden, um den Strom in anderen Anwendungen nutzbar zu machen, wenn das Netz ihn nicht aufnehmen kann", fordert er.
Der Ausbau der Stromnetze geht derweil nur schleppend voran, auch der Zubau der Windenergie ist seit 2018 dramatisch zurückgegangen, was den Süden Deutschlands vor grosse Herausforderungen stellt.
"Grossunternehmen wie VW oder Bosch wollen ihre Produktion zeitnah CO2-frei machen. Als Technologieführer in Sachen Windkraft kann sich Deutschland kein heimisches Desaster erlauben", warnt Axthelm.
"Geisterstrom": Kein Mut seitens der Politik
Die Bundesregierung habe bislang nicht den Weg freigemacht, Windstrom regional in Mobilitäts- oder Wärmekonzepte einzubringen. Wenn Strom, der abgeregelt zu werden droht, regional genutzt werden könnte, würde das die Netze aber unmittelbar entlasten.
"Aktuell bleiben wir hinter den notwendigen Erfordernissen zurück, um die Abschaltung der Atomkraftwerke und Kohlebergwerke in ausreichendem Umfang zu kompensieren", meint Axthelm. Vonnöten sei eine Steuerungstechnik mit intelligenten Komponenten, die die Belastung des Netzes automatisch erkennen und entsprechend Verbraucher oder Erzeuger zu- und abschalten.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Wolfram Axthelm
- Welt+: "Der 'Geisterstrom' offenbart den Irrsinn der Energiewende"
- Halbjahreszahlen des Fraunhofer Instituts für Solare Energietechnik
- Strompreise in Deutschland und EEG-Umlage
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