Man hätte es doch wissen müssen – so lautet nach der Germanwings-Tragödie der Tenor in vielen Kommentaren. Co-Pilot Andreas Lubitz litt 2009 unter Depressionen, er durfte trotzdem fliegen. Hat also die Lufthansa einen verhängnisvollen Fehler gemacht? Es sieht nicht danach aus. Im Gegenteil.
"Wenn man diese Vorgeschichte des Co-Piloten hört, wie kann es dann sein, dass er überhaupt im Cockpit sass?" Dieses Thema beschäftige
Doch, sagt Ulrich Paulus von der Luftfahrt-Akademie. "Wie sich die Lufthansa verhalten hat, entspricht absolut der jetzigen Rechtslage und den Regularien." Wie das Unternehmen selbst mitteilte, habe es 2009 von der Erkrankung des damaligen Flugschülers Lubitz erfahren, der die Flugschule Bremen in einer Mail über eine "abgeklungene schwere depressive Episode" informierte. Laut der "Welt" unterzog die Airline Lubitz danach nicht nur nochmals dem Eingangstest, sondern sogar einer zusätzlichen psychiatrischen Begutachtung. Die Lufthansa will das auf Anfrage nicht bestätigen.
Der Pilot ist selbst verantwortlich
Die generelle Vorgehensweise ist relativ simpel: Wenn es eine Unterbrechung des Dienstes wegen einer Krankschreibung gibt, liegt es am Piloten selbst, dass er wieder gesundgeschrieben wird. Danach geht er zum Fliegerarzt, lässt sich seine Flugtauglichkeit bescheinigen, die dann dem Luftfahrtbundesamt mitgeteilt wird. Auch wenn zuvor Depressionen diagnostiziert wurden, ist das kein genereller Hinderungsgrund für eine Anstellung oder eine Wiederanstellung als Pilot. Das regelt die EU-Verordnung 1178/2011. Allerdings muss eine "zufriedenstellende psychiatrische Beurteilung" vorliegen. Diesen Punkt betont auch Lufthansa-Sprecher Boris Ogursky im Gespräch: "Wenn die Flugtauglichkeit vorliegt, sehen wir keinen Grund, den Piloten nicht fliegen zu lassen. Sollen wir das Urteil der Ärzte anzweifeln?"
Weltweit gilt seit 2014 auf Empfehlung der amerikanischen Luftfahrtbehörde FAA ein einfacher Grundsatz, erläutert Ulrich Paulus von der Luftfahrtakademie: "Der Pilot ist allein verantwortlich für seine Flugtauglichkeit." Das hat mit Haftungsfragen zu tun. "Sollte die Airline verantwortlich sein, wäre das ein Paradigmenwechsel in der Luftfahrt."
Natürlich checken die Flugunternehmen den Gesundheitszustand ihrer Piloten. Mindestens einmal jährlich müssen die Mitarbeiter sich einem "Medical" unterziehen. Wenn den Fliegerärzten dabei etwas auffällt, wird das jedoch nicht dem Unternehmen mitgeteilt, sondern dem Luftfahrtbundesamt, sagt Ulrich Paulus. Eigentlich hätte die Lufthansa von der Depression nicht zwingend erfahren müssen. "Wenn die Flugschule das weitergegeben hat, dann doch nur, weil sich Lubitz selbst zu seiner Krankheit bekannt hat."
Angesichts der Germanwings-Tragödie fordern einige Politiker nun eine Lockerung der Schweigepflicht: "Piloten müssen zu Ärzten gehen, die vom Arbeitgeber vorgegeben werden. Diese Ärzte müssen gegenüber dem Arbeitgeber von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden sein", sagte CDU-Verkehrsexperte Dirk Fischer der "Rheinischen Post".
Fliegerarzt geht von Auflagen aus
Hans-Werner Teichmüller ist Präsident des Deutschen Fliegerarztverbandes. "Die Lufthansa hat sich wahrscheinlich richtig verhalten", sagt er. "Das Unternehmen durfte nach der Mail davon ausgehen, dass es sich um einen abgeheilten Prozess handelte." Solche Depressionen gebe es durchaus, sagt Teichmüller. "Es gibt aber auch solche, die wiederkommen und einen Einfluss auf die Flugtauglichkeit haben."
In der Krankenakte von Lubitz findet sich ein sogenannter SIC-Vermerk, ein Zeichen für eine langwierige Erkrankung, die einer besonderen Prüfung unterzogen werden muss. Es ist wahrscheinlich, dass er sich immer wieder Kontrollen unterziehen musste, sagt Teichmüller: "Es ist zu diesem Zeitpunkt Spekulation, aber ich gehe davon aus, dass Lubitz ein Auflagenblatt hatte. Das könnten regelmässige psychologische oder psychiatrische Untersuchungen sein."
"Eine Prognose ist unmöglich"
Dann steht also die Frage im Raum: Hätte ein Psychologe nicht erkennen müssen, dass Lubitz besser nicht fliegen sollte? "Nein, das kriegt man nicht raus", sagt Mario Gollwitzer. Der Psychologe ist Professor an der Universität Marburg. Er weist auf die Grenzen der Behandlung hin: "Klinische Diagnosen sind immer eine Momentaufnahme." Depressionen seien so behandelbar, dass die Betroffenen wieder arbeitsfähig sind. "Aber sie sind nicht so einfach wieder weg. Eine Prognose ist schlicht unmöglich."
Keine Aussage, die die Menschen zufriedenstellt, die jetzt nach Antworten suchen. Damit muss man umgehen, sagt Gollwitzer. "Die Öffentlichkeit ist schnell dabei zu sagen: Das hätte man doch wissen müssen. Aber man muss die Frage auch umgekehrt stellen: Was, wenn alle Betriebe sich plötzlich die Krankenakten zeigen lassen und beispielsweise aufgrund einer kurzen depressiven Symptomatik vor vielen Jahren sagen würden: Sorry, dich können wir nicht nehmen, das ist uns zu gefährlich - das wäre eine Katastrophe."
Gollwitzer regt eine Art Ombudsperson an, die in einem Unternehmen Hilfe anbieten kann – "ohne dass gleich die Personalabteilung davon erfährt." Bei der Lufthansa gibt es so eine Stelle. Mitarbeiter können sich vertrauensvoll an sie wenden, wenn sie gesundheitliche oder seelische Probleme haben. Aber auch da gibt es noch ein Problem, sagt Ulrich Paulus von der Luftfahrt-Akadamie. "Die Betroffenen müssen von selbst kommen."
Zwar sind auch Kollegen angehalten, auffälliges Verhalten zu melden, "aber wer schwärzt schon gern Kollegen an? Ausserdem können die Beschuldigungen ja auch nicht stimmen." Andererseits könnten sich auch vertraute Kollegen decken – selbst dagegen hat die Lufthansa Vorkehrungen geschaffen: Die Zusammensetzungen der Crews wechseln ständig. Doch es scheint, als müsste man sich damit abfinden, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt.
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