Im Fall des von Ureinwohnern getöteten US-amerikanischen Missionars John Chau steht die indische Polizei vor einem Dilemma bei der Leichenbergung. Unterdessen bittet die Familie um Verständnis - für die Ureinwohner. Und auch ein Forscher sieht die Schuld bei dem 27-Jährigen, denn es gab klare Hinweise für absolute Lebensgefahr.
"Ich will nicht sterben", schrieb der Missionar in sein Tagebuch, nachdem ein Kind einen Pfeil auf ihn geschossen und seine Bibel getroffen hatte.
Und doch kehrte der junge Mann zurück auf die Insel der Ureinwohner im Indischen Ozean - und ward nicht mehr lebend gesehen.
Diese Szenen spielten sich nicht vor Hunderten Jahren ab, sondern vor weniger als zwei Wochen.
Der 27 Jahre alte US-Amerikaner John Chau hatte Fischer angeheuert, ihn auf die Nord-Sentinel-Insel zu bringen - Teil der Inselkette der Andamanen, die zu Indien gehört, aber näher bei Myanmar liegt.
Mordverdacht - Verdächtige nicht greifbar
Zum Schutz der dort lebenden Ureinwohner - der sogenannten Sentinelesen, die als letztes steinzeitliches Volk der Welt gelten - ist es verboten, sich der nur rund 60 Quadratkilometer grossen Insel mit von Sandstrand umringtem Wald auf weniger als fünf Kilometer zu nähern.
Weil das sogar für die Polizei gilt, stehen die Beamten nun vor einem Dilemma: Sollen sie versuchen, die Leiche zu bergen?
Wie sollen sie in dem Todesfall ermitteln, wenn sie sich den einzigen Zeugen nicht nähern dürfen - und ohnehin niemand deren Sprache versteht?
Es sei ein sehr schwieriger Fall, sagt der Polizeichef der Inselgruppe, Dependra Pathak. Einerseits gebe es eine Anzeige wegen Mordes, der nachgegangen werden müsse. Andererseits gelte in Bezug auf die Ureinwohner die Vorgabe: "Finger weg".
Die Sentinelesen kamen Experten zufolge wahrscheinlich vor etwa 50.000 Jahren aus Afrika auf die Insel und führen noch heute ein ursprüngliches Leben als Jäger und Sammler.
Ihre Zahl wird auf weniger als 100 geschätzt. Kaum mehr ist über sie bekannt, da sie Fremden immer unmissverständlich zu verstehen gegeben haben, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen.
Sentinelsen hatten Chau klar gewarnt
So auch Chau, nachdem er sich ihnen das erste Mal genähert und gesagt hatte: "Mein Name ist John, ich liebe euch und Jesus liebt euch."
Das geht aus Tagebucheinträgen des Abenteurers und einem Brief an seine Familie hervor, die die Polizei den Medien zur Verfügung gestellt hat.
Mit Pfeilen bewaffnete Sentinelesen hätten ihn angeschrien, steht da. Er sei blitzschnell weggepaddelt, gebe aber nicht auf.
"Ihr haltet mich vielleicht für verrückt, aber ich denke, das alles ist es wert, um diesen Leuten Jesus zu verkünden", schrieb der Missionar seiner Familie.
Er sagte den Fischern, die ihn hergebracht hatten, sie könnten wegfahren; er werde die Nacht auf der Insel verbringen. Das sagten die Fischer später der Polizei.
Chau war sich durchaus bewusst, was ihm bei den Sentinelesen drohte: "Bitte seid weder ihnen noch Gott böse, falls ich getötet werde", schrieb er.
Chaus lebloser Körper am Strand
Als die Fischer am nächsten Tag zur Insel zurückkehrten, sahen sie nach eigenen Angaben, wie die Bewohner Chaus leblosen Körper durch den Sand schleiften.
Die Polizei ist seitdem zweimal mit der Küstenwache vor die Küste der Insel gefahren. "Wir haben den Strand durch Ferngläser beobachtet, und die Sentinelesen sind mit Pfeilen und Bögen zum Vorschein gekommen. Wir haben Abstand gehalten", erzählt Polizeichef Pathak. "Wir wollen keine Konfrontationen."
Die Polizei berät sich auch mit Anthropologen, darunter Trilok Nath Pandit - der Mann, der sich wohl so gut wie sonst niemand mit den Sentinelesen auskennt.
Bereits im Jahr 1967 führte er eine Expedition zur Nord-Sentinel-Insel an. Es folgten viele weitere, bei denen er zusammen mit anderen Forschern Geschenke wie Kokosnüsse, Metallgegenstände und lebende Schweine am Strand hinterlegte und aus sicherer Entfernung im Wasser die Reaktionen der Sentinelesen beobachtete. Immer verhielten sie sich feindselig.
"Wir verstehen ihre Sprache nicht, aber es war nicht schwer, zu verstehen, dass sie uns nicht auf ihrer Insel haben wollten", erzählt Pandit.
Chau ignorierte Regeln - sein Todesurteil
Er habe immer auf sie gehört. Das hätte auch Chau tun sollen, meint er. "Er hat sie provoziert, nachdem sie deutlich gemacht hatten, dass er nicht willkommen war", sagt der heute 84-Jährige.
In all den Jahren kam Pandit nur einmal, 1991, den Sentinelesen richtig nahe. Damals wateten einige von ihnen - allesamt nackt, manche mit Kopfschmuck oder gelber Farbe im Gesicht - ins flache Wasser hinaus, um die mitgebrachten Kokosnüsse persönlich entgegenzunehmen.
Warum sie das auf einmal taten, weiss Pandit nicht. Ein Junge mit einem Messer habe ihm aber bedeutet, er solle sich dem Strand besser nicht weiter nähern.
Mitte der 90er-Jahre stellte die indische Regierung die Expeditionen ein. Es hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese grossen Schaden anrichten könnten - etwa durch die Verbreitung von Krankheiten wie Masern oder Grippe, die im 19. Jahrhundert vielen Ureinwohnern auf den Andamanen das Leben gekostet hatten.
Auch deshalb fordert die Organisation Survival International, die sich für die Rechte von Indigenen einsetzt, die Behörden auf, nicht zu versuchen, Chaus Leichnam zu bergen.
Leichen-Bergung wäre für beide Seiten gefährlich
Dies wäre für die Sicherheitskräfte wie auch für die Sentinelesen höchst gefährlich, heisst es. Auch lokale Forscher und Journalisten warnten am Dienstag in einem Brief vor einer weiteren Eskalation.
Zur Vorgeschichte gehört nämlich auch der Fall zweier Fischer, die im Jahr 2006 von Sentinelesen getötet wurden, nachdem ihr Boot an den Strand der Insel getrieben war.
Als die Küstenwache kam, um die im Sand vergrabenen Leichen zu holen, griffen die Inselbewohner deren Hubschrauber an. Nur einer der toten Fischer konnte geborgen werden.
Die Sentinelesen seien von sich aus nicht aggressiv, meint Pandit. "Für sie sind Aussenseiter aber Eindringlinge", erklärt er. "Wir sollten ihren Wunsch respektieren, allein gelassen zu werden."
Dieser Meinung ist auch Chaus Familie, die in einem Posting auf dem Instagram-Account, der dem getöteten US-Amerikaner zugeschrieben wird, dafür plädiert, die Ureinwohner nicht für die Geschehnisse zur Verantwortung zu ziehen.
Chau sei ein geliebter Sohn, Bruder, Onkel und Freund gewesen, heisst es dort. Aber er habe auf eigene Faust gehandelt, aus freien Stücken die Insel betreten und sich somit in Gefahr begeben. Dafür dürfe man die Menschen vor Ort nicht verurteilen. (dpa/mwo)
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