Die Polizei in Nordrhein-Westfalen hat massenhaft kinderpornografisches Material sichergestellt. Was sie entdeckt haben, entsetzt die Ermittler – und zeigt, wie professionell die Täter agierten.
Es sieht aus wie der Serverraum eines mittelständischen Unternehmens. In einem Metallregal surren mehrere Rechner, gegenüber steht ein grosser weisser Schreibtisch mit drei grossen Flachbildschirmen. An der Wand hängt ein weiterer Monitor. Darauf zu sehen: ein Wüstenbild.
Was die veröffentlichten Polizeibilder nicht zeigen, ist das Grauen auf den Festplatten der Computer. Die Behörden haben in Nordrhein-Westfalen ein Pädophilen-Netzwerk entdeckt. Die schockierenden Taten lassen die Ermittler fassungslos zurück, die von den Verdächtigen benutzte, hochprofessionelle Technik bringt die Polizei an ihre Grenzen.
Die hatte am Donnerstag und Freitag in nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in Niedersachsen, Hessen und Brandenburg insgesamt elf Tatverdächtige festgenommen. Dem vorausgegangen waren zahlreiche Durchsuchungen.
Das bisherige Ermittlungsergebnis nach rund dreieinhalb Wochen sei wohl nur die Spitze des Eisbergs, sagten am Samstag übereinstimmend der Leiter der Ermittlungen, Joachim Poll, und Oberstaatsanwalt Martin Botzenhardt. Die Ermittler hätten "unfassbare" Bilder sehen müssen, so Poll. Münsters Polizeipräsident Rainer Furth sagte: "Selbst die erfahrensten Kriminalbeamten sind an die Grenzen des menschlich Erträglichen gestossen und weit darüber hinaus." Wir fassen zusammen, was bisher über den Fall bekannt ist.
Die Verdächtigen
- Die Polizei hat bundesweit elf Verdächtige festgenommen, sieben der Beschuldigten befinden sich in Untersuchungshaft.
- Der Hauptbeschuldigte ist ein 27-jähriger IT-Techniker aus Münster. Er ist bereits wegen des öffentlichen Zugänglichmachens und des Besitzes kinderpornographischer Schriften vorbestraft.
- Die Mutter des Hauptbeschuldigten, die auch in Untersuchungshaft sitzt, hat als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet. Derzeit gebe es aber keine Hinweise auf Taten der 45-Jährigen im Kindergarten. Ihre Gartenlaube in Münster gilt als Haupttatort. Sie soll ihrem Sohn die Schlüssel für die Häuschen überlassen und den sexuellen Missbrauch der Kinder in Kauf genommen haben.
- Die anderen fünf inhaftierten Beschuldigten sind: ein 30 Jahre alter Mann aus Staufenberg bei Giessen, ein 35-Jähriger aus Hannover, ein 42-Jähriger aus Schorfheide in Brandenburg, ein 43-Jähriger aus Kassel und ein 41-Jähriger aus Köln
- Nach derzeitigem Stand der Ermittlungen sind vier Männer dringend verdächtig, zwei Kinder schwer sexuell missbraucht zu haben. Zwei weitere Beschuldigte stehen im Verdacht, zumindest an einem der beiden Kinder schwere sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben.
- Die Beschuldigten wurden zwischen dem 14. Mai und dem 4. Juni festgenommen. Sie haben sich – mit einer Ausnahme – bislang nicht zu den Vorwürfen geäussert.
Die Opfer
- Bisher sind drei Kinder als Opfer identifiziert worden. Die Jungen sind nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft von Samstag fünf, zehn und zwölf Jahre alt.
- Die Kinder sollen teilweise stundenlang von mehreren Männern sexuell missbraucht worden sein – in einem Fall vom eigenen Vater, in einem anderem vom Lebensgefährten der Mutter.
- Der Beschuldigte aus Kassel steht im Verdacht, seinen 12-jährigen Neffen missbraucht zu haben.
- Die Kinder sollen vor den Taten betäubt worden sein.
- Das Jugendamt der Stadt Münster hatte Kontakt zur Familie eines der Opfer. Die Familie sei den Behörden aus den Jahren 2015 bis 2016 bekannt, "weil der soziale Kindsvater wegen des Besitzes und des Vertriebs pornografischer Daten aufgefallen war", teilte die Stadt am Samstag mit. 2015 habe das Familiengericht keinen Anlass gesehen, das Kind aus der elterlichen Verantwortung zu nehmen.
Missbrauchsfälle in Münster: Das Vorgehen
- Die Polizei wirft dem 27-Jährigen Münsteraner bislang 15 Taten vor. Sie sollen im Zeitraum von November 2018 bis Mai 2020 stattgefunden haben.
- Die Taten soll der Mann zum Teil per Video und auf Fotos dokumentiert und über Darknet verbreitet haben.
- Ermittler fanden hochprofessionelle technische Ausstattung zur Videoaufzeichnung. Unter anderem in einem komplett eingerichteten und klimatisierten Serverraum, der dem Beschuldigten aus Münster zuzurechnen sein dürfte, stellten sie mehr als 500 Terabyte versiert verschlüsseltes Material sicher. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Handelsübliche Computer für den Heimgebrauch haben Speicherplatten mit einer Grösse von 1 bis 3 Terabyte.
- Viele der Daten müssen noch entschlüsselt werden. Nach der Auswertung erster Daten gehen Polizei und Staatsanwaltschaft davon aus, dass bislang nur ein kleiner Teil der mutmasslichen Verbrechen bekannt geworden ist.
- In der Gartenlaube fanden die Ermittler in einer Zwischendecke versteckt zudem eine gelöschte Festplatte des 27-Jährigen. Die Daten konnten durch Experten des Polizeipräsidiums Münster wiederhergestellt werden.
Weitere Missbrauchsfälle
- Nach der Aufdeckung des Pädophilen-Netzwerks in Münster werden nach Überzeugung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in den kommenden Monaten weitere Fälle folgen. Dass in Nordrhein-Westfalen "immer mehr Missbrauchsfälle bekannt werden", habe viel damit zu tun, dass die Ermittlungskapazitäten in dem Bereich erhöht worden seien, sagte der stellvertretende GdP-Landesvorsitzende Michael Maatz. "Deshalb müssen wir damit rechnen, dass in den nächsten Monaten weitere Gruppen von Kinderschändern auffliegen werden, zum Teil in Dimensionen, die sich bislang niemand vorstellen kann."
- In dem Bundesland sind in den zurückliegenden Jahren mehrmals schwere Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern entdeckt worden. Zuerst Ende 2018 der Fall Lügde, bei dem mehrere Männer auf einem Campingplatz an der Landesgrenze zu Niedersachsen über 30 Kinder jahrelang vergewaltigt und die Bilder zum Teil über das Internet angeboten hatten.
- Seit Monaten ermitteln Beamte unter Federführung der Kölner Polizei zudem in einem bundesweiten Missbrauchskomplex, der in Bergisch Gladbach seinen Anfang nahm. Dort hatten Ermittler im Oktober die Wohnung eines 42-Jährigen durchsucht und riesige Mengen kinderpornografischen Materials gefunden. Spezialisten sind bis heute mit der Auswertung beschäftigt.
(dpa/mf)
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