Schier unvorstellbare Grössenordnungen: 44 Tage lang stimmen in Indien fast eine Milliarde Menschen über das Unterhaus ab. Der amtierende Premierminister Narendra Modi bewirbt sich dabei um eine dritte Amtszeit. Wie seine Chancen stehen, was den Wahlkampf in Indien bestimmt und wieso die Kandidatur des bekanntesten Oppositionellen auf der Kippe stand.
In Indien startet am Freitag, 19. April, der grösste demokratische Vorgang der Welt: Bis Anfang Juni sind rund 969 Millionen Wählerinnen und Wähler dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben – mehr als das Doppelte der Bevölkerung der EU-Staaten. Bei der letzten Wahl im Jahr 2019 waren es noch 150 Millionen Wahlberechtigte weniger.
Was genau wird gewählt?
Die Inderinnen und Inder stimmen in 28 Bundesstaaten und 8 sogenannten Unionsterritorien über ihr Unterhaus (Lok Sabha) ab. "Das entspricht unserem Bundestag. Indien praktiziert jedoch das britische System, weshalb es keine Listenwahl gibt", erklärt Indien-Experte Adrian Haack. Man wähle einen Kandidaten für den Wahlkreis, in dem man registriert sei.
Insgesamt gibt es 543 Wahlkreisabgeordnete und zwei Abgeordnete, die durch die Präsidentin benannt werden. Die Mehrheit liegt damit bei 272 Sitzen. "Das Parlament wählt dann wiederum die Regierung", sagt Haack. Für die Regierung unter Narendra Modi geht es damit um weitere fünf Jahre.
Warum dauert die Wahl so lange?
Insgesamt dauert die Stimmabgabe 44 Tage – vom 19. April bis zum 1. Juni. Am 4. Juni werden dann die Wahlergebnisse bekannt gegeben. Die Stimmabgabe erfolgt in sieben Phasen, dafür stehen 5,5 Millionen elektronische Wahlmaschinen bereit. "Es gibt kleinere Bundesstaaten, in denen es so wie bei uns nur einen Wahltag gibt. In Uttar Pradesh hingegen wohnen ungefähr so viele Menschen wie in Frankreich, Deutschland und Polen zusammen", sagt Haack.
Dort werde die Wahl auf sieben Tage gestreckt, an jedem Tag würden einige Distrikte wählen. Da man innerhalb von zwei Kilometern um seinen Wohnort eine Wahlmöglichkeit angeboten bekommen müsse, werde in Arunachal Pradesh eine Wahlmaschine auf 4.100 Meter Höhe zu 35 Wählern gebracht.
Was ist mit den analphabetischen Teilen der Bevölkerung?
Rund 20 Prozent der Menschen in Indien können nicht richtig lesen, weshalb neben dem Parteinamen ein Symbol abgebildet ist. "Die Regierungspartei hat eine Lotusblume, es gibt auch eine Mango, einen Kamm oder einen Elefanten", sagt Haack.
Die Parteien würden mit ihren Symbolen Wahlkampf machen. Seine Stimme kann man dann einfach abgeben, indem man eine Taste auf dem elektronischen Wahlgerät neben dem Parteisymbol der bevorzugten Partei drückt – insgesamt gibt es über 2.600 registrierte politische Parteien.
Wer regiert derzeit in Indien?
Derzeit wird Indien von der "Nationalen demokratische Allianz" (NDA) dominiert, die aus über 30 Parteien besteht. Sie hatte 2019 über 350 Sitze gewonnen. Der grösste Anteil entfiel dabei auf die Bharatiya-Janata-Partei (BJP) unter Narendra Modi. Der heute 73-Jährige ist bereits seit 2014 an der Macht und für seinen offensiven Hindu-Nationalismus bekannt.
Unter ihm ist es der BJP gelungen, eine nationale hinduistische Identität aufzubauen, die als Gegenentwurf zu einer Historie der Besetzung durch muslimische und britische Invasoren funktioniert. Ausserdem hat Modi Indien zur Nummer 5 der führenden Wirtschaftsnationen gemacht, weshalb die Wirtschaft hinter ihm steht.
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Worum geht es im Wahlkampf?
Auch, wenn Modi die indische Wirtschaft insgesamt gestärkt haben mag, die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter auseinandergegangen. Die unteren 50 Prozent der Gesellschaft besitzen gerade einmal drei Prozent des Gesamtvermögens. Grosse Teile der Bevölkerung leben in Armut.
"Es gibt keine grossen öffentlichen Diskursthemen, weil für die überwiegende Mehrheit der Menschen die Verbesserung ihrer Lebensumstände im Vordergrund steht", beobachtet Haack. In seinem Wahlprogramm verspricht Modi, die Wirtschaft weiter anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Opposition konnte sich derweil nicht auf gemeinsame Ziele einigen.
Wie stehen die Chancen für die Regierungspartei?
Modi geht damit als klarer Favorit ins Rennen und dürfte nach den jüngsten Umfragen seine Mehrheit ausbauen. Sein formuliertes Ziel: Mehr als 400 Sitze für das NDA-Bündnis zu holen.
"Die regierende BJP von Premierminister Modi hat aktuell 303 Sitze, während die zweitstärkste Partei auf 52 Sitze kommt", zeigt Haack die Kräfteverhältnisse auf. Für Modi, der noch nie eine Wahl verloren hat, wäre es seine dritte Amtszeit. Seine Zustimmungswerte liegen bei etwa 75 Prozent.
Wen schickt die Opposition ins Rennen?
Ebenfalls zum wiederholten Mal stellt sich Rahul Gandhi zur Wahl, Präsident der Kongresspartei. 2019 kam sie auf 52 Sitze, könnte aber nun auf 38 Sitze fallen. Gandhi ist der Spitzenkandidat der "Indian National Developmental Inclusive Alliance" (India) und gilt als das bekannteste Gesicht der Oppositionspolitik, die sich vor allem an Minderheiten in einem Land richtet, in dem rund 80 Prozent Hindus sind.
Der 53-Jährige ist Enkel der indischen Premierministerin Indira Gandhi und arbeitete in der Vergangenheit als Finanzberater in London. Als er 2004 in die Politik wechselte, fand er ein gemachtes Nest vor: In seinem Wahlkreis in Uttar Pradesh hatten bereits seine Mutter und sein Vater kandidiert. Seine Mutter ernannte ihn später zum Generalsekretär der Kongresspartei.
Im März 2023 wurde der Oppositionspolitiker wegen Verleumdung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte in einer Rede vier Jahre zuvor gesagt: "Warum haben all diese Diebe Modi als Nachnamen? Nirav Modi, Lalit Modi, Narendra Modi." Gandhi verlor zunächst seinen Parlamentssitz, der Oberste Gerichtshof hob die Verurteilung jedoch wieder auf.
Wie stark ist die Opposition?
Insgesamt wirkt die Opposition hilflos. "Es fehlt an Wechselstimmung", ist sich auch Experte Haack sicher. Keiner der Gegenkandidaten sei aussichtsreich. "Modi ist ein Politiker auf dem Zenit seiner Karriere und die Opposition ist nicht geschlossen. Ein Regierungswechsel wäre schon eine wirkliche Sensation", sagt er.
Die Kongresspartei hatte in den vergangenen Monaten mit Korruptionsskandalen zu kämpfen. Ausserdem hat sich eine Unzufriedenheit mit der Parteispitze breitgemacht, die durch familiäre Bande geprägt ist. Neben Rahul Gandhi gehören seine Mutter, die frühere Parteichefin Sonia Gandhi, und seine Schwester Priyanka Gandhi zum Führungsgremium der Partei.
Weil die Opposition kein gemeinsames Programm eint, ausser das Ziel, die BJP zu stürzen, glauben nur wenige in Indien an ihre Regierungsfähigkeit. Schwer lastet auf dem Oppositionsbündnis zudem, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Kandidaten die Kongresspartei verlassen haben, um sich anderen Parteien anzuschliessen – auch der BJP.
Welche Bedeutung hat die Wahl für Deutschland?
In ganz Europa ist Deutschland der wichtigste Handelspartner Indiens. Deutschland gehört zu den grössten ausländischen Direktinvestoren in Indien, doch auch die indischen Investitionen in Deutschland sind in den letzten Jahren immer weiter gestiegen – vor allem in den Bereichen IT, Automobil, Pharma- und Biotechnologie.
Hierzulande dürfte die Wahl aus Sicht von Haack allerdings wenig verändern. "Da sich kein Regierungswechsel abzeichnet, werden sich die Auswirkungen für uns in Grenzen halten", sagt er.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Adrian Haack ist Leiter des Auslandsbüros in Indien der Konrad-Adenauer-Stiftung
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Adrian Haack
- india.diplo.de: "Wirtschaftliche Beziehungen: Deutschland - Indien"
- kas.de: "Parlamentswahlen in Indien"
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