Grossbritannien hat bislang bewusst auf weitreichende Massnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus verzichtet. Nach Kritik aus der Wissenschaft wechselt die britische Regierung nun ihre Strategie – zumindest ein wenig.

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Lange hat die britische Regierung vor allem eines in der Coronavirus-Krise unternommen: Nichts. Oder nur sehr wenig. Und das völlig bewusst.

So hatte Regierungsberater Patrick Vallance die bislang zurückhaltenden Massnahmen in Grossbritannien unter anderem damit begründet, dass eine "Herdenimmunität" gegen das Virus aufgebaut werden müsse.

Infizierten sich etwa zwei Drittel der Bevölkerung, dann könnte Schutz für die ganze Gemeinschaft durch Immunität aufgebaut werden, sagte der Gesundheitsexperte kürzlich bei der Vorstellung eines Massnahmenkatalogs der Regierung mit Premierminister Boris Johnson.

Johnson hofft, Höhepunkt bis zum Sommer herauszuzögern

Der hatte darauf gehofft, den Höhepunkt der Pandemie in Grossbritannien bis zum Sommer herauszögern zu können, damit die Auswirkungen auf das Gesundheitswesen gering blieben. Menschen mit Symptomen wird derzeit lediglich empfohlen, eine Woche zu Hause zu bleiben.

Allerdings ist das Verfahren hochriskant: Hunderttausende Menschen werden gefährdet, zehntausende Angehörige der Risikogruppen, darunter gerade alte Menschen, könnten sogar sterben. Nach Vorwürfen aus der Wissenschaft will die britische Regierung nun doch umschwenken - zumindest ein wenig.

Grossbritannien plant Verbot von Grossveranstaltungen

In Grossbritannien wurden bislang 1.143 Infektionsfälle mit dem neuartigen Coronavirus bestätigt, 21 Menschen starben an der durch das Virus ausgelösten Lungenkrankheit COVID-19.

Geplant ist nun laut britischen Medienberichten vom Samstag unter anderem ein Verbot von Grossveranstaltungen. Demnach soll das Verbot in der kommenden Woche im Eilverfahren vom Parlament verabschiedet werden und am kommenden Wochenende in Kraft treten.

Eine solche Entscheidung würde die Absage berühmter Grossveranstaltungen wie das Tennisturnier in Wimbledon oder das Royal-Ascot-Pferderennen im Juni bedeuten. Bisher wurden unter anderem sämtliche Fussballspiele der Premier League ausgesetzt oder verschoben. Nach Angaben des Buckingham Palace verschob auch Königin Elizabeth II. "als Vorsichtsmassnahme" eine Reihe von Terminen, die für die kommende Woche geplant waren. Prinz Charles sagte eine Reise nach Bosnien, Zypern und Jordanien ab.

Wissenschaftler werfen Regierung vor, unnötig Leben zu gefährden

Fast 250 Wissenschaftler werfen der britischen Regierung nun vor, nicht genug gegen die COVID-19-Pandemie zu tun und unnötig Leben zu gefährden. Mit einfachen Massnahmen könnten Tausende Menschen gerettet werden, teilten die Wissenschaftler aus Grossbritannien am späten Samstagabend in einem offenen Brief mit. Es sei möglich, die Geschwindigkeit der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus "dramatisch" zu bremsen. Unkontrolliert könnten sich aber in den nächsten Wochen Millionen Briten mit dem Erreger anstecken.

In einem in der Zeitung "Times" veröffentlichten Brief kritisierten die Wissenschaftler überdies, die Regierung berücksichtige die Erfahrungen anderer Länder mit der Pandemie nicht ausreichend.

Zudem verwiesen sie auf Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, wonach Grossbritannien in Fragen der medizinischen Grundausstattung mit nur 2,5 Krankenhausbetten pro tausend Einwohnern hinter Italien (3,2 Betten), Frankreich (sechs Betten) und Deutschland (acht Betten) liege.

WHO: Wir wissen noch zu wenig über das Virus

Grossbritanniens bisherigen Umgang mit dem Coronavirus stellte auch die Sprecherin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Harris, am Samstag infrage. Man wisse noch zu wenig über das Virus. "Es ist noch nicht lange genug in unserer Bevölkerung, um zu wissen, was es immunologisch macht", sagte sie dem Nachrichtensender BBC. "Wir können über Theorien reden, aber im Moment stehen wir wirklich vor einer Situation, in der wir uns mit Taten beschäftigen müssen."

Und die britische Regierung? Sie beschwichtigt. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums sagte in der Nacht zum Sonntag, dass der Regierungsberater Vallance falsch verstanden worden sei: "Herdenimmunität ist nicht Teil des Aktionsplans, sondern das natürliche Beiprodukt einer Epidemie". Ziel sei es, Leben zu retten und den staatlichen Gesundheitsdienst NHS (National Health Service) zu entlasten. Der NHS ist chronisch überlastet und marode. Die Mängel im Gesundheitsdienst waren auch zentrales Thema im Wahlkampf.

Dennoch: Grundsätzlich hält London offenbar am bisherigen Vorgehen fest. Wie die Regierung erklärte, hätten zu früh ergriffene drastische Massnahmen nur einen begrenzten Nutzen und zudem den Nachteil, dass die Menschen bei Erreichen des tatsächlichen Höhepunkts der Coronakrise womöglich nicht mehr gewillt wären, die Eindämmungs- und Vorsichtsmassnahmen zu befolgen. (afp/dpa/mf)

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