Der verheerende Hochhausbrand in London hat bislang offiziell 79 Menschen das Leben gekostet. Unvergessen sind die dramatischen Bilder der Feuerkatastrophe im Grenfell Tower, die verzweifelten Hilferufe und Rettungsversuche. Während die Stadt noch trauert, regt sich Wut und Empörung über einen geschmacklosen Katastrophen-Tourismus.

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Das Feuer im 24-stöckigen Grenfell Tower im Londoner Stadtteil Kensington war vergangene Woche in der Nacht auf Mittwoch ausgebrochen.

Berichten zufolge lebten zwischen 400 und 600 Menschen in dem hohen Sozialbau. Der verheerende Brand gehört zu den folgenschwersten Hochhausbränden weltweit.

Wut über Katastrophen-Touristen

Während London noch die 79 Toten betrauert und weitere Opfer befürchtet, regt sich Wut und Entsetzen über das Verhalten zahlreicher Katastrophen-Touristen.

Während das Feuer wütete hatten sie nicht nur normale Fotos geschossen, sondern auch Selfies geknipst, mit dem tödlichen Grauen als vermeintlich spektakulärem Hintergrundmotiv.

Die Geschmacklosigkeit war so offensichtlich, dass sich Anwohner genötigt fühlten, entsprechende Schilder anzufertigen und darauf hinzuweisen, dass der Hochhausbrand keine Touristen-Attraktion sei.

"Bitte hören Sie auf, Fotos zu machen", war darauf zu lesen, oder "Bitte schiessen Sie keine Selfies!"

Doch selbst nach dem Löschen des Brandes bleibt der völlig zerstörte Grenfell Tower ein "beliebtes" Motiv für Smartphone-Fotografen.

Natasha Gordon lebt in London. Verwandte und Freunde von ihr wohnten in dem Hochhaus.

Leid anderer Menschen als Party-Event

Gegenüber CNN erzählt sie von Horden von Katastrophen-Touristen, die auch jetzt noch Fotos und Selfies von der Ruine machten.

"Es sind Massen. Die Leute betrachten das als eine Party und zeigen ihre Respektlosigkeit, wenn sie Fotos schiessen. Dabei legen sie noch nicht einmal eine Karte oder Blumen ab."

Auch Wayne Kilo äussert bei CNN seine Wut über die Hobby-Fotografen. Er hat in dem Feuer nach eigener Aussage viele Freunde verloren und kann die mangelnde Sensibilität der Katastrophen-Touristen nicht verstehen.

"Es war eine Schande diese Leute zu beobachten, wie sie Selfies von sich machten, mit dem Tower im Hintergrund, und direkt vor den Augen derjenigen, die geliebte Menschen in dem Feuer verloren hatten."

Die ausgelassene Geschmacklosigkeit habe ihn zutiefst erschüttert, meint Kilo. "Die Leute verhielten sich wie im Karneval, manche Jungs fragten Mädchen sogar nach ihrer Telefonnummer."

Susan Krauss Whitbourne ist Psychologie-Professorin an der University of Massachusetts Amherst. Sie hat das Phänomen des "Katastrophen-Selfies" untersucht und spricht bei CNN von einem Trend, der aus der gestiegenen Bedeutung von sozialen Medien hervorgehen würde.

Geschmacklose Eigenwerbung bei Social Media

"Sein Gesicht vor ein Katastrophen-Szenario zu schieben, hat eine ganz spezielle Dimension", erklärt sie. "Das hat nichts mehr mit Bewältigung zu tun, das ist nur noch Eigenwerbung. Man spekuliert auf Aufmerksamkeit und Kommentare unter seinem Foto."

Es sei eine Sache, das Grauen zu respektieren, das Menschen erlitten hätten, und etwas ganz anderes, diese Linie zu überschreiten. "Es gab schon immer dieses Bestreben, sich selbst als Teil des Geschehens zu initiieren und damit zu zeigen: ich war dabei."

Die Anwohner hätten mit ihren Schildern und Plakaten dieses Verhalten kritisiert und damit "eine neue Norm definiert, um klar zu machen, dass dieses Verhalten inakzeptabel ist", so Whitbourne.

Es ist ein verstörendes Verhalten, das Menschen weltweit in Rage versetzt. Auch in Deutschland hatte es in diesem Jahr bereits zahlreiche Fälle gegeben, bei denen sich die Polizei beispielsweise nach Verkehrsunfällen massiv über Gaffer beschwerte.

Einige der Smartphone-Fotografen hatten dabei sogar ihre Autos geparkt, statt eine Rettungsgasse zu bilden, und waren ausgestiegen, um am Unfallort bessere Bilder schiessen zu können.

Neugier sollte Vernunft weichen

"Der Mensch ist von Natur aus neugierig, es ist also zu erwarten, dass ihn aussergewöhnliche Situationen interessieren und anziehen", erklärte dazu Verkehrspsychologe Jürgen Brenner-Hartman im Interview mit unserer Redaktion.

Doch er betont, der Mensch verfüge neben der Neugier eben "auch über Vernunft und hat Verantwortung und die sollte ihm sagen, wann aus verständlichem Interesse behinderndes Gaffen wird, das bei Verkehrsunfällen nicht angebracht ist."

Brenner-Hartman bestätigt die Beobachtung von Psychologin Whitbourne zu den Vorfällen in London.

"Es gibt die Tendenz, alle möglichen Vorkommnisse als 'Events' aufzufassen, sie im Bild festzuhalten und womöglich in sozialen Netzen zu posten. Es ist ein unschönes Phänomen, dass es vielen wichtiger zu sein scheint, damit zu prahlen, was sie erlebt haben, als dass sie selbst Hilfestellung leistet."

Solidarität und Anteilnahme in London

Für die Angehörigen der Opfer sei ein solches Verhalten zusätzlich schmerzhaft, meint Brenner-Hartman.

Mit dem Gaffen und den Fotos würde eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern zum Ausdruck gebracht, die eine enorme zusätzliche Belastung für die Betroffenen bedeute.

Doch glücklicherweise sind Katastrophen-Touristen eine geächtete Minderheit. In London machte noch während des Brandes eine enorme Solidarität in der Bevölkerung positive Schlagzeilen.

Menschen versorgten die Retter mit Essen und Getränken, brachten Decken für die Verletzten.

Mittlerweile hat sich am Fusse des ausgebrannten Grenfell Towers ein buntes Meer aus Blumen und Kondolenz-Karten ausgebreitet.

Es ist ein bewegendes Zeichen der Anteilnahme und zweifellos ausdrucksstärker als jedes Facebook-Selfie.

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