- In Süditalien ist einer der grössten Mafiaprozesse der vergangenen Jahrzehnte gestartet.
- Mehr als 300 Mitglieder der 'Ndrangheta stehen vor Gericht, rund 900 Zeugen sind geladen.
- Die Clans aus Kalabrien gelten als extrem brutal - nicht nur der Staatsanwalt lebt gefährlich.
Die Bosse der 'Ndrangheta steuern den Kokainhandel, bestechen Politiker und geben Mordaufträge: Mit einem der grössten Mafia-Prozesse der vergangenen Jahrzehnte will Italiens Justiz die Verbrecherclans aus Kalabrien in die Schranken weisen. Seit Mittwoch sitzen in der süditalienischen Stadt Lamezia Terme mehr als 300 mutmassliche Mitglieder und Helfer der 'Ndrangheta auf der Anklagebank.
Die Liste der Vorwürfe in dem Mega-Verfahren ist lang: darunter sind Mafia-Zugehörigkeit, diverse Gewalttaten, Erpressung, Drogenhandel und Geldwäsche. Vielen Angeklagten drohen bei einer Verurteilung hohe Haftstrafen.
Mafia-Jäger Gratteri: Wichtig, dass Prozess in Heimatregion der 'Ndrangheta stattfindet
"Dieser Prozess ist in vielerlei Hinsicht wichtig", sagte der leitende Staatsanwalt aus der Regionalhauptstadt Catanzaro, Nicola Gratteri, kurz vor dem Auftakt italienischen Medien. Es sei ein Zeichen, dass er in der Heimatregion der 'Ndrangheta stattfinde. Und nicht etwa in der Hauptstadt Rom. Der 62-Jährige ist einer der prominentesten Mafia-Jäger Italiens. Gratteri hatte die Ermittlungen über Jahre vorangetrieben. Er wurde bedroht und erhielt Personenschutz.
Gratteri sass in der ersten Reihe des riesigen Saals, als Richterin Tiziana Macri den Prozess mit der Verlesung der Namen der Angeklagten eröffnete. Diese waren allerdings wegen der Corona-Pandemie nicht vor Ort, sondern per Video zugeschaltet. Sie waren in dem riesigen Raum auf unzähligen Bildschirmen zu sehen.
Die Fahnder konzentrierten sich für den 'Ndrangheta-Prozess auf den Clan der Familie Mancuso aus der Provinz Vibo Valentia und befreundete kriminelle Gruppen. Gratteri und andere Mafia-Experten erwarten, dass das Verfahren verstärkt ans Licht bringt, wie eng die Beziehungen zwischen Teilen von Politik und Wirtschaft mit der 'Ndrangheta sind.
Gerade in Süditalien beschaffen kriminelle Bosse einigen Politikern bei Wahlen Stimmen. Dafür erhalten die von ihnen kontrollierten Firmen zum Beispiel staatliche Genehmigungen oder Aufträge.
Dauer des Verfahrens: Mindestens ein bis zwei Jahre
Das Verfahren dürfte mindestens ein bis zwei Jahre dauern. Für die Verhandlungen in Lamezia Terme wurde extra ein Gebäude als riesiger Hochsicherheitsgerichtssaal hergerichtet. Darin können nach offiziellen Angaben rund 1.000 Beteiligte mit dem nötigen Corona-Abstand Platz finden.
Angekündigt sind etwa 900 Zeugen, darunter ehemalige Mafia-Leute. Sie sind bereit, das sogenannte Gesetz des Schweigens, die Omertà, zu brechen. Das gilt ebenfalls als ein starkes Signal im Kampf gegen die Verbrechernetze.
Rund 90 Angeklagte hatten nach Medienberichten Vorwürfe der Justiz zugegeben und sich für ein Schnellverfahren entschieden. Für sie soll es am 27. Januar vor Gericht losgehen. Für weitere Mord-Beschuldigte sei eine andere Verhandlung ab Februar vorgesehen, hiess es.
Auch Sohn eines Clan-Bosses tritt als Zeuge der Anklage auf
Die Zahl der Mafiosi, die diesmal als "Pentiti" mit der Justiz kooperieren, ist nach Einschätzung des Kriminalitätsexperten Federico Varese "signifikant". "58 Personen sagen gegen die Organisation aus. Dies ist eine hohe Zahl, insbesondere für die 'Ndrangheta, die historisch immer nur wenige Überläufer hatte", erläuterte der Professor der Universität im britischen Oxford. Auch der Sohn eines Clan-Bosses trete als Zeuge der Anklage auf.
"Der Mancuso-Clan ist ein sehr gewalttätiger und gleichzeitig unternehmerisch sehr starker Clan, der am internationalen Drogenhandel beteiligt ist und enge Verbindungen nach Kolumbien unterhält", berichtete Varese. Der Italiener verwies auf Meldungen, wonach die Gruppe eine Unternehmerin getötet, ihre Leiche zerteilt und an Schweine verfüttert haben soll. "Nur weil sie sich weigerte, ihnen ihr Geschäft zu verkaufen", sagte Varese.
Festnahmen 2019 auch in Deutschland und der Schweiz
Das Mega-Verfahren ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit der Justiz. Im Dezember 2019 hatten rund 2.500 Polizisten bei einer Grossaktion gegen die Mafia mehr als 300 Menschen festgenommen - auch in Deutschland, der Schweiz und Bulgarien.
Die 'Ndrangheta dehnte ihren Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten krakenartig aus. Aus den Dörfern der Stiefelspitze kommend, hat sie andere Gruppen überholt und gilt heute als wohl mächtigste Mafia-Organisation in Europa. Begonnen hatte sie mit Entführungen zum Erpressen von Lösegeld. Dann stiegen die Banden in den Kokainschmuggel ein - und überliessen der Cosa Nostra den Heroin-Markt. Die 'Ndrangheta infiltrierte den Bausektor und andere Wirtschaftszweige.
Die "Maxi-Prozesse" gegen die Mafia sind nicht unumstritten wegen der Schwierigkeit, jedem der vielen Angeklagten ein faires Verfahren zu ermöglichen. Die Staatsanwälte argumentieren aber, die weitverzweigten Aktivitäten der 'Ndrangheta liessen sich schwerlich in vielen kleinen Prozessen verhandeln.
In den 1980er Jahren hatte ein anderer "Maxi-Prozess" gegen die sizilianische Cosa Nostra in Palermo weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Damals waren mehr als 400 mutmassliche Mitglieder angeklagt, 338 Angeklagte wurden verurteilt. Auch als Rache brachte die Mafia später die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino um. (mgb/dpa/afp)
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