Wenn sich Rassismus nicht offen zeigt, sondern verdeckt im Handeln von Institutionen, spricht man von institutionellem Rassismus. Gerne wird da hierzulande mit dem Finger auf die USA gezeigt. Dabei täte etwas mehr Selbstkritik gut, sagt der Soziologe und Rassismusforscher Tobias Neuburger.
Die SPD-Vorsitzende
Handelt es sich um ein strukturelles Problem sprechen Wissenschaftler von institutionellem oder systemischen Rassismus. Gemeint ist damit, dass in einem Land Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder überhaupt Menschen, die nicht ursprünglich aus diesem Land kommen, benachteiligt werden.
Und zwar in allen möglichen Bereichen: bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, bei der Behandlung von Krankheiten, im Kontakt mit Polizei und Justiz. Der Begriff kommt aus der Black-Power-Bewegung der 1960er. Geprägt haben ihn die Bürgerrechtler Stokely Carmichael und Charles Hamilton.
Rassismus: Alles nur Einzelfälle?
Das häufig genannte Racial Profiling, also wenn eine Person allein aufgrund ihrer Herkunft schon als verdächtig gilt, ist ein Aspekt des systemischen Rassismus. Ein anderer sind die dramatischen Fälle von in Polizeigewahrsam misshandelten und zu Tode gekommenen jungen Männern. In Deutschland ist die Geschichte von Oury Jalloh wohl am bekanntesten.
Jeder der bislang vorgekommenen Fälle ist anders, doch eine Frage haben sie alle gemein: Handelt es sich um das Fehlverhalten Einzelner oder ist Rassismus in der Institution Polizei in irgendeiner Form tiefer verankert? Eine Frage, die schwierig zu beantworten ist, denn zum Thema institutioneller Rassismus gibt es in Deutschland nur wenige belastbare Zahlen.
EU-Daten legen nahe, dass es hier ein Problem gibt
Immerhin für Europa gibt es Zahlen, zum Teil zumindest. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat in ihren MIDIS-Studien mehr als 25.000 Zuwanderer in EU-Staaten zu vielen Diskriminierungsthemen befragt, zum Beispiel, ob sie in den vergangenen fünf Jahren von der Polizei gestoppt wurden und dabei den Eindruck hatten, das passiere nur wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft. In Österreich beantworteten 37 Prozent der Menschen aus Subsahara-Afrika diese Frage mit Ja.
"Die Ergebnisse der MIDIS-Studie weisen auf ausgeprägte Ungleichheitsstrukturen in vielen EU-Staaten hin", sagte Tobias Neuburger vom Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz-Universität Hannover im Gespräch mit unserer Redaktion. Es bestehe kein Grund anzunehmen, dass es in Deutschland anders sei.
"Auffangklassen" statt Integration
An einzelnen Behördenmassnahmen wird die institutionelle Ungleichbehandlung aber auch hierzulande sichtbar. "Wenn zum Beispiel Menschen aus Bulgarien und Rumänien einwandern, und ihre Kinder dann in sogenannte Auffang- oder Sprungbrettklassen kommen statt in die ganz normalen Schulklassen. Das ist so ziemlich das Gegenteil von Inklusion", sagt Neuburger. Insbesondere im Bildungsbereich ist diese segregierende, also trennende, Bildungspraxis relativ gut untersucht.
Solcherlei Ausschluss kann also schon im Kindesalter beginnen - und setzt sich dann mitunter auf dem Arbeitsmarkt fort. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Beratungszentrums Rahma in Frankfurt am Main, das sich vor allem um die Belange muslimischer Mädchen und Frauen kümmert, erhalten viele solcher Berichte. "Unsere Erfahrung aus der Beratungspraxis deckt sich da mit Studien, wonach etwa bei identischen Bewerbungen eine Bewerberin mit türkisch klingendem Namen nachweislich seltener zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wird, und eine Muslima mit Kopftuch sogar signifikant seltener", sagt Beraterin Havva Deniz.
Polizei als geschlossenes System
Auch wenn die Diagnose in diesen oder anderen Fällen "institutioneller Rassismus" lauten könnte - nicht zwangsläufig steckt dahinter eine böse Absicht. "Selbst wenn Polizisten im Schnitt wohl konservativer sind, so ist die Aussagen 'Alle Polizisten sind überzeugte Rassisten' selbstredend übertrieben", sagt Tobias Neuburger.
Wenn bestimmte Menschen beispielsweise aufgrund von willkürlichen Eigenschaften wie der Hautfarbe häufiger angehalten und befragt werden als andere, dann verweist das jedoch auf problematische Routinen und rassistische Wissensbestände in der Polizei.
Nur: Gerade Institutionen wie die Polizei sind nicht besonders offen. "Sogar bei den Ermittlungen im NSU-Komplex bekamen die Untersuchungsausschüsse vielfach keinen adäquaten Zugang", so Neuburger. Die Polizei sei eine undurchsichtige Organisation.
Um das zu ändern, müssten die Effekte und die Mechanismen von institutionellem Rassismus erst einmal sichtbar gemacht werden. Mit Fragebögen die Einstellung von Polizistinnen und Polizisten zu erheben, sei allerdings nicht unbedingt möglich, sagt Neuburger.
Neben einer Öffnung der Institution für unabhängige Forschung müssten in der Polizei unabhängige Ombudsleute arbeiten, an die sich Betroffene wenden können. Sie würden dann nicht nur rassistische Vorfälle in der Polizeiarbeit registrieren, sondern hätten auch Einblicke in die Abläufe und könnten so erkennen, wenn "Ermittlungsarbeit auf rassistischen Wissensbeständen wie etwa Racial Profiling fusst".
Die dürftige Datenlage wurde auch vom UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination, CERD) wiederholt kritisiert. Es überprüft die Einhaltung der Anti-Rassismus-Konvention der Vereinten Nationen, die Deutschland 1965 mit unterzeichnet hat. Um seine Bemühungen auf diesem Gebiet nachzuweisen, muss jedes Land alle paar Jahre einen Staatenbericht abliefern.
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit Tobias Neuburger vom Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz-Universität Hannover
- Schriftliche Antworten auf Fragen von Havva Deniz, Beraterin bei Rahma - Muslimisches Zentrum für Mädchen, Frauen und Familie
- Website der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (European Union Agency for Fundamental Rights, FRA): MIDIS-Daten
- Website des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination, CERD): Concluding Observations
- Website des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Staatenberichte
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