Trotz weitreichender Gegenmassnahmen ist es Italien nicht gelungen, das Coronavirus einzudämmen. Nun versucht es die Regierung mit noch drastischeren Anweisungen. Grosse Teile des Nordens werden zur Sperrzone. Doch das Krisenmanagement beunruhigt viele noch mehr.
Es ist nach 2.00 Uhr nachts, als sich Premierminister Giuseppe Conte endlich äussert. Seit Stunden schon zirkulieren da Berichte über neue, drastische Massnahmen gegen das neue Coronavirus. Menschen schicken sich panisch Nachrichten - darunter Gerüchte über einen Ansturm auf Züge, die rausfahren aus den Risikogebieten. Dann verkündet Conte: Grosse Teile der wirtschaftlich wichtigsten Gebiete in Norditalien mit Städten wie Venedig oder der Millionenmetropole Mailand sollen quasi dicht gemacht werden. Raus und rein dürfen nur die, die einen triftigen Grund vorweisen können.
Doch die Informationspolitik ist chaotisch. Niemand weiss, was genau wann passieren wird. Und wie neuen Sperrzonen mit ihren rund 16 Millionen Einwohnern kontrolliert werden. "Wir wollen die Gesundheit unserer Bürger garantieren. Wir verstehen, dass dies Opfer verlangt, manchmal kleine, manchmal sehr grosse", sagt Conte, der bei seinem Statement allein und verloren wirkt.
Der Alltag steht still
Das ganze Land befindet sich schon seit Ende Februar, als auf einmal in einigen Orten in der Lombardei viele Infektionen nachgewiesen wurden, im Ausnahmezustand. Schulen, Kindergärten und Universitäten sind im ganzen Land geschlossen. Das öffentliche Leben steht grösstenteils still. Jetzt machen alle Theater, Museen und Sehenswürdigkeiten wie das Kolosseum oder Pompeji dicht. Der letzte Tourist wird nun auch noch fernbleiben. Die Wirtschaft liegt am Boden.
Gegen dramatische Massnahmen sträuben sich viele Menschen. Einschränkungen der Freiheit könnten ohnehin nicht so restriktiv überwacht werden wie vielleicht in einem autoritären Staatsgefüge wie es China hat. Viele haben die Anweisungen der Regierung bisher nicht befolgt, wie Chiara Steinweg, die mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann aus Köln in Mailand lebt, der Deutschen Presse-Agentur berichtet. Zum Beispiel, ausreichend Abstand zu Mitmenschen zu halten. Nicht zum Arzt zu rennen mit Erkältungssymptomen. Als Älterer möglichst nicht rauszugehen.
Sinkende Sorge macht übermütig
Anfangs habe grosse Alarmstimmung geherrscht, die Strassen seien leer gewesen und die Menschen in die Supermärkte gerannt, erzählt Steinweg. Dann habe es sich etwas entspannt, und die Leute seien wieder rausgegangen. "Und jetzt steigt die Nummer von Angesteckten. Weil die Leute nicht aufgepasst haben. Viele wollen jetzt weg, die haben ihre Familien woanders."
In der Tat witzeln viele Menschen über die Massnahmen, halten alles für Hysterie. Absurderweise rief Mailands Bürgermeister Giuseppe Sala noch Ende letzter Woche Touristen auf, wieder nach Mailand zu kommen. Und der Chef der Regierungspartei PD, Nicola Zingaretti, zeigte sich Ende Februar demonstrativ in Mailand beim Aperitif und betonte, Panik sei fehl am Platz. Nun ist er selbst infiziert.
Mehr als 360 Tote
Italien ist es trotz drastischer Massnahmen nicht gelungen, das Virus einzudämmen. Mittlerweile sind es mehr als 7300 bestätigte Fälle. Mehr als 360 Menschen sind tot. Die Krankenhäuser zum Beispiel in der Lombardei sind am Limit. Eine so grosse Zahl an Patienten in der Intensivstation verkraftet das System nicht.
Chiara Steinweg aus Mailand erzählt, sie habe auch zunächst überlegt, mit ihrer Familie zu den Grosseltern nach Genua zu gehen. "Doch dann würde ich die in Gefahr bringen, falls wir uns angesteckt hätten." Auch Conte spricht immer wieder von den "nonni", also den Grosseltern, die es vor allem zu schützen gelte. Die allermeisten der Toten in Italien sind Menschen über 80 Jahre, die meisten hatten Vorerkrankungen.
Unklar ist, wie weit sich das Virus unbemerkt in ganz Italien ausgebreitet hat. Die hohe Zahl der Toten im Vergleich zu den Infizierten könnte darauf hindeuten, dass es in Wirklichkeit viel mehr Angesteckte gibt, die nur nichts davon wissen. "Wir sind hier sozusagen nur die Pioniere, das kommt auch noch nach Rom", sagt die Deutsche Katrin Hupke, die in der Provinz Padua lebt. Die ist nun auch Sperrzone. Durch eine unklare Politik würden Menschen panisch reagieren und "in Züge springen", um die Flucht zu ergreifen. Sie arbeitet als Reiseleiterin. "Das kann man jetzt komplett knicken. Ich warte auf die letzten Absagen."
"Sie bringen wahre Opfer"
Statt mit Sachinformation aufzuklären, schwankt das Krisenmanagement der Regierung zwischen Alarmismus und Beschwichtigung. Immer wieder geraten Dekret-Entwürfe mit neuen Massnahmen an die Öffentlichkeit, ohne genaue Erklärungen.
Dennoch findet der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, lobende Worte für Italiens Bemühungen. Regierung und Bürger unternähmen "kühne, mutige Schritte", um die Virus-Verbreitung zu verlangsamen und ihr Land und die Welt zu schützen, schrieb Tedros auf Twitter. "Sie bringen wahre Opfer."
Am Sonntag fahren landesweit noch alle Züge, Flughäfen sind auch in den Sperrgebieten offen. Doch wie lange noch? Kommt jetzt das Militär? Werden sie bald geschlossen? Darf ich noch auf der Autobahn von Süditalien durch die Sperrzone fahren? Alles Fragen, auf die es in so einer heiklen Situation zunächst keine Antwort gibt. Touristen sollen so schnell wie möglich die Sperrzonen verlassen. Wann und wie bricht sich der Unmut vieler Bürger Bahn?
Ab wann sind Massnahmen unverhältnismässig?
In den betroffenen Gebieten herrscht teils Unverständnis. "Wissenschaftlich unverhältnismässig" sei die Massnahme mit Blick auf den Verlauf der Epidemie in Venetien, erklärte die Region. Venedig, Padua und Treviso gehören neuerdings zu den Sperrgebieten. Der Bürgermeister von Asti, einer Provinz im Piemont, nannte die neue Massnahme "Wahnsinn". Der Hintergrund sei ihnen nicht erklärt worden.
In Süditalien, das zumindest offiziell noch keine hohen Fallzahlen hat, geht nun die Angst vor infizierten Norditalienern um. Wer aus den gesperrten Gebieten komme, müsse umgehend in Quarantäne, erklärt der Präsident der Region Apulien, Michele Emiliano: "Haltet ein und kehrt um, steigt am ersten Bahnhof wieder aus!" (best/dpa)
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