Gerechtigkeit – und sei sie noch so spät: 70 Jahre nach Kriegsende werden noch immer Verbrecher des Dritten Reichs gesucht und vor Gericht gestellt. Welche Probleme es dabei gibt, wie sinnvoll die Prozesse sind und warum er den Begriff "Nazi-Jäger" nicht mag, erklärt Thomas Will von der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen im Interview.

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Keiner hat den Begriff "Nazi-Jäger" so sehr geprägt wie Simon Wiesenthal. Getrieben vom Wunsch nach Gerechtigkeit, spürte der österreichische Holocaust-Überlebende unermüdlich die Schergen des Dritten Reiches auf. Zu seinen Erfolgen gehören die Festnahme von Adolf Eichmann und des SS-Polizisten Karl Silberbauer, der Anne Frank und ihre Familie verhaftet hatte.

Diese Arbeit ist auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht beendet. Erst am vergangenen Mittwoch wurde der frühere Auschwitz-Buchhalter Oskar Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt. Einen wesentlichen Beitrag, dass es zum Prozess gegen den inzwischen 94-Jährigen kam, hat die "Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg geleistet.

Die "Jagd" nach Nazis ist vor allem Archivarbeit

Die Bezeichnung "Nazi-Jäger", die eher nach Indiana Jones klingt, lehnen Thomas Will und seine Kollegen ab. "Ich bin Staatsanwalt und jage keine Nazis. Ich ermittle gegen Verbrecher", sagt der stellvertretende Leiter der Ludwigsburger Behörde im Gespräch mit unserem Portal.

Ihre Hauptaufgabe ist die Suche nach Beweisen, Zeugen und Tätern von Verbrechen, die teilweise noch gar nicht bekannt sind. Die Quellen können ganz unterschiedlich sein. "Wir bekommen beispielsweise Hinweise aus der Bevölkerung oder von Journalisten, die auf etwas gestossen sind", sagt Will.

Die Ermittlungsarbeit beruht vor allem auf dem langwierigen Durchforsten von staubigen, halb zerfallenen Dokumenten in Archiven. Das können Akten aus dem Dritten Reich selbst sein. Aber auch Einreiseverzeichnisse in Lateinamerika, wohin viele Nazis nach Kriegsende flüchteten.

Die Ludwigsburger arbeiten mit ähnlichen Einrichtungen in anderen Ländern zusammen, wie dem früheren "Office for Special Investigations" in den USA. Nach dem Fall der Mauer wurden auch Verbindungen mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufgenommen. Dabei spielen Bürokratie und die Eigeninteressen von Staaten oft eine grosse Rolle. Es könnten auch mal ein oder zwei Jahre dauern, bis er die benötigten Auskünfte erhalte, erzählt Will.

Nur Mord verjährt nicht

Heute kann nur noch eine Straftat aus der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt werden: Mord. "Alles andere ist verjährt", erklärt der Staatsanwalt. Erschiessungen beispielweise können nur unter besonders grausamen Umständen als Mord eingestuft werden, so will es das Gesetz. Für Nicht-Juristen kann diese Regelung schwer nachvollziehbar sein. "Ich verstehe das absolut", meint Will. "Jede Tötung ist eine fürchterliche Sache."

Für ihn und seine Mitarbeiter ist die Arbeit ein Wettlauf gegen die Zeit. Die noch lebenden Täter sind inzwischen hochbetagt, meist weit über 90 Jahre alt. Oft sind sie kaum noch verhandlungsfähig. So werden auch Stimmen laut, die diese Prozesse für sinnlos halten.

Er nehme das ernst, versichert Will. Doch von den Opfern und deren Nachfahren höre er anderes. "Es ist unheimlich wichtig, dass ihr das noch verfolgt", sagen sie zu ihm. Es ist der Wunsch, dass die Gräuel von damals nicht vergessen werden.

Manchmal hilft "Kommissar Zufall"

"Für uns ist es nicht so wichtig, dass man einen Mann ins Gefängnis steckt, sondern dass er ein Urteil bekommt", sagt Ermittler Will. "Solange ein Beschuldigter in der Lage ist, seine Pflichten und Rechte wahrzunehmen und verhandlungsfähig ist, meine ich, dass er sich auch verantworten muss."

Wie viele es von den Schuldigen überhaupt noch gibt, sei schwer zu sagen. Staatsanwalt Will geht von Hunderten aus, die für ein Verfahren in Betracht kommen können. Die grösste Schwierigkeit bestehe darin, sie zu finden. "Wir haben durch die Ermittlungen zum Konzentrationslager Auschwitz und Lublin-Majdanek sehr viele Personen auf unserer Liste, die vom Geburtsjahrgang her noch leben könnten, aber deren Spur sich nach Kriegsende verloren hat", erklärt der Staatsanwalt. Manchmal helfe jedoch "Kommissar Zufall".

Wandel in der Schuldfrage

Zum Urteil gegen Gröning kam es vor allem deswegen, weil sich in den vergangenen Jahren die Rechtsauffassung in Deutschland geändert hat. Früher musste vor Gericht eine unmittelbare Schuld von NS-Verbrechern festgestellt werden. Zudem wurde lange Zeit die gesamte Schuld auf die Haupttäter, allen voran Adolf Hitler, geschoben. Alle anderen galten als Befehlsempfänger.

Heute können auch Wachleute in Vernichtungslagern verurteilt werden, da ihre Arbeit die Mordmaschinerie erst möglich machte und am Laufen hielt. "Der Blick hat sich erhellt", drückt es Will aus.

Wie lange es seine Arbeitsstelle noch gibt, ist ungewiss. "Das ein oder andere Jahr wird es noch sein", meint der Staatsanwalt. Vielleicht wird die Zentrale Stelle danach in ein Dokumentations- und Bildungszentrum umgewandelt. Will hält das für sinnvoll. Immerhin habe sich über die Jahre ein "gewaltiger Fundus an deutscher Nachkriegs- und Verfolgungsgeschichte" angesammelt.

War Opa ein Nazi?

Doch welche Rolle spielte meine Familie im Nationalsozialismus? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen in Deutschland. Für die Nachforschung gibt es mehrere Anlaufstellen: Im Bundesarchiv in Berlin wird unter anderem die zum grossen Teil erhaltene Mitgliedskartei der NSDAP aufbewahrt. Im Militärarchiv in Freiburg sind die Personalakten der Wehrmacht untergebracht. Tipps für die Recherche gibt zum Beispiel die KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Seminaren.

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