• Der Vatikan bekräftigt, Homosexuelle nicht gleichberechtigt behandeln zu wollen - Geistliche und Laien sind entsetzt.
  • Ein Historiker gibt der katholischen Kirche nur noch zwanzig Jahre.
  • Schafft sie es, im 21. Jahrhundert anzukommen?

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"Ich gebe der Kirche noch 20 Jahre" – mit dieser These ging der Historiker Martin Kaufhold im Februar an die Öffentlichkeit. Er habe, betont er im Gespräch mit unserer Redaktion, "eine ganze Reihe von positiven Reaktionen" auf sein Interview erhalten.

Im Gespräch mit der "Augsburger Allgemeinen" hatte Kaufhold auch geäussert, Rainer Maria Woelki, Kardinal und Erzbischof von Köln, solle zurücktreten. Der hatte sich monatelang geweigert, ein Gutachten zum Thema Kindesmissbrauch zu veröffentlichen. Mittlerweile ist der Inhalt dieses Gutachtens bekannt. Das von Woelki in Auftrag gegebene Konkurrenzgutachten hatte zwar zu Rücktritten im Bistum geführt – der Kardinal jedoch will im Amt bleiben.

Inzwischen äussert auch der Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz harte Kritik am Gutachten des Kardinals: Es vernachlässige die "systemischen Ursachen" des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Priester. Genau darum aber gehe es, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Die katholische Kirche habe ein strukturelles Problem, das wisse "inzwischen jeder" – doch bei den Kirchenoberen komme die Botschaft nicht an. In einer jahrhundertelangen "elitären Absonderung" und dem Leben in ausschliesslichen Männerzirkeln hätten sich die Kleriker darin geübt, Frauen den Status dienstbarer Hilfskräfte zuzuweisen, Sexualität als "Gift" zu betrachten und Homosexualität auszugrenzen.

Statt positiver Entwicklungen: Diskriminierung Homosexueller

Viele Gläubige hatten gehofft, dass sich unter dem reformfreudig angetretenen Papst Franziskus und dem von ihm propagierten "synodalen Weg" in dieser Hinsicht einiges ändern könnte. Doch sie wurden bitter enttäuscht: Auch auf die Frage, ob "Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts" gesegnet werden könnten, antwortete die vatikanische Glaubenskongregation am 22. Februar mit einem klaren "Nein". Franziskus selbst hat das Dokument "Responsum ad dubium" genehmigt.

Der ehemalige Benediktinermönch und Prior des bayerischen Klosters Andechs, Anselm Bilgri, hat 2004 dem Klosterleben den Rücken gekehrt und erst kurz vor Bekanntwerden des römischen Dokuments seinen langjährigen Partner geheiratet. Bilgri zeigt sich im Gespräch enttäuscht, aber nicht überrascht. Als "diskriminierend" empfindet er die Botschaft aus Rom. Sie wolle längst überholte Vorstellungen festzurren, obwohl die Gesellschaft weiter sei.

Bilgri freut sich, dass ein grosser Teil der deutschen Theologen sich gegen das "Responsum" ausgesprochen hat – er selbst bezeichnet Sprache und Inhalt des Dokuments drastisch als "alt-theologischen Quark" und nimmt es zum Anlass, die Entwicklung der katholischen Kirche grundsätzlich zu kritisieren: Die Rolle der Frauen, die Rolle der Priester, die Rolle der nebenberuflichen Mitarbeiter – all dies müsse neu bedacht werden. Wenn auch Nicht-Theologen Priester werden könnten, meint Bilgri, würde das Priesteramt jene strukturelle Machtposition verlieren, die es Geistlichen möglich mache, sich an Schützlingen zu vergehen.

Auch eine Spaltung ist vorstellbar

Der Prognose des Historikers Kaufhold mag Bilgri trotzdem nicht zustimmen: "Die katholische Kirche wird es noch lange geben", meint er, allerdings werde sie an Bedeutung verlieren. Auch eine Spaltung der katholischen Kirche kann sich der ehemalige Mönch vorstellen – doch diese könnte man mit "regionalen Lösungen" vermeiden: "Warum sollte nicht in Afrika das Zölibat weiterhin gelebt werden, selbst wenn es in Europa verheiratete Priester geben würde?", fragt er. Doch solche Gedanken lägen der Kirchenhierarchie fern: "Da bräuchte es ein paar Mutige. Aber wer heute Bischof ist, der ist in diesem Machtsystem grossgeworden und denkt selbst in Machtbegriffen."

Der Sozialpsychologe Keupp sieht Ursachen für eine Krise der Kirche nicht nur in den Machtstrukturen. Auch die Weigerung der Kirche, die Realität anzuerkennen, führe dazu, dass immer mehr Menschen ihr den Rücken zukehren. Unter den Mönchen im bayerischen Kloster Ettal sei er sich bei seinen dortigen Missbrauchsuntersuchungen vorgekommen "wie ein Ethnologe im 19. Jahrhundert in Afrika – ich habe vieles einfach nicht verstanden".

Eine Sprache, die nur "Vatikanisten" verstehen

Zu den vielen Dingen, die er auch heute noch nicht verstehe, gehöre die Begründung für die Ablehnung des Segens für Homosexuelle. Um vatikanische Botschaften zu verstehen, sagt Keupp, müsse man "selbst ein 'Vatikanist' sein". In der unverständlichen Sprache der Kleriker zeige sich Weltfremdheit. Deren Resultat sei eine lebensferne Kirche mit Geboten etwa zur Sexualität, an die sich nicht einmal überzeugte Gläubige hielten.

Keupp hegt grosse Sympathie für "Haltung und Auftreten" von Franziskus. Doch er fürchtet, der Papst stecke in einer Art Gefängnis: "Viele Türen, die er aufstösst, werden von anderen sofort wieder zugemacht." Ob er den eingeschlagenen "synodalen Weg" der Diskussion mit den Kirchenvertretern und Gläubigen vor Ort durchhalten könne, sei zweifelhaft geworden.

Reformer sollen offensiver auftreten

Der Psychologe wünscht sich, die Frauen der Bewegung "Maria 2.0" und andere innerkirchliche Reformer sollten offensiver auftreten – möchte aber nicht ausschliessen, dass es so zur Spaltung der katholischen Kirche kommen könnte: "Sie ist eine Weltkirche, und viele Südamerikaner oder Afrikaner würden den aufklärerischen Geist gerne wieder zurückdrängen."

Behält der Mittelalter-Experte Kaufhold also doch recht? Vielleicht wird es die katholische Kirche "als Institution und in dieser Form in Deutschland" nur noch 20 Jahre lang geben. Genau gelesen bedeutet das: Es wird dann weiterhin eine katholische Kirche geben – doch sie wird sich sehr verändert haben. Es könnte eine Kirche sein, die auch für Homosexuelle, für Frauen, für weltliche Helfer offen wäre. Oder eine kleine, auf ihren konservativen Kern geschrumpfte Kirche für nur noch wenige Anhänger.

Über die Experten: Prof. Martin Kaufhold lehrt mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg.
Anselm Bilgri, 67, war Benediktinermönch und Prior des bayerischen Klosters Andechs. Seit seinem Austritt 2004 bezeichnet er sich als "Vortragsredner, Unter­neh­mens­berater & Bestsellerautor, Coach, Seelsorger & Be­glei­ter". 2020 trat er aus der katholischen Kirche aus und in die alt-katholische ein, 2021 hat er seinen langjäh­rigen Partner geheiratet.
Prof. Heiner Keupp lehrte bis zu seiner Emeritierung Sozialpsychologie an der Universität München. Er ist Mit­glied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbei­tung sexuellen Kindesmissbrauchs

Verwendete Quellen:

  • Augsburger Allgemeine (11. Februar 2021): "Ich gebe der Kirche noch 20 Jahre" – Interview mit Martin Kaufhold
  • Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubens­lehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts.
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