Die neue Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde – kurz KESB – ist in der Deutschschweiz zu einem Feindbild geworden. Doch wie arbeitet die Vormundschaftsbehörde im Alltag? Ein Einblick.
Es ist ein eisigkalter Wintermorgen: Ältere Menschen tasten sich vorsichtig durch Schneewehen, um auf den vereisten Gehwegen nicht auszurutschen, vom strahlendblauen Himmel scheint die Sonne auf die Dächer der Fachwerkhäuser.
Auf einem Schild steht "Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Gossau". Die Fälle, die hinter dieser Fassade besprochen werden, bilden einen scharfen Kontrast zum idyllischen Bild der Kleinstadt. Aber natürlich braucht es auch an diesem Ort zwischen Bodensee und Appenzellerland eine Vormundschaftsbehörde.
Gossau (SG) ist typisch für weite Teile der Schweiz – weder richtig urban, noch richtig ländlich. Mit rund 18'000 Einwohnern ist Gossau die viertgrösste Stadt im Kanton St. Gallen. Die Bevölkerung entspricht altersmässig dem Schweizer Durchschnitt: Rund 20% sind unter 20 Jahre alt, fast gleich viele Einwohner sind im Rentenalter. Gossau ist also ideal, um sich ein Bild von einem ganz normalen Tag bei einer Schweizer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) zu machen.
Ehrlich oder verletzend?
Es geht um eine Mutter, die aus Überforderung das geerbte Vermögen ihres Kindes anbraucht. Sie hätte eigentlich Anspruch auf Leistungen des Staates, bekommt aber nichts, weil sie die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht hat. Die KESB möchte nun das Geld des Kindes schützen. Der Fall ist Thema an diesem Vormittag beim Treffen von KESB-Präsident Andreas Hildebrand mit einer Sozialarbeiterin.
Hildebrand – ausgebildeter Jurist und Anwalt – ist der Ansicht, die KESB müsse im Entscheid noch deutlicher begründen, warum die angeordnete Beistandschaft für das Kindsvermögen erforderlich sei. Die Sozialarbeiterin räumt ein, sie habe vorsichtig in der Formulierung sein wollen, weil sie die betroffene Person nicht verletzen wolle.
Hildebrand schmunzelt und erklärt der Besucherin: "Wir wollen die Leute jeweils nicht zu stark mit den eigenen Defiziten konfrontieren." Aber gleichzeitig müssten sie ehrlich sein und erklären, warum die Behörde so weit gehen müsse. Gemeinsam brüten sie nun also über einer geeigneten Formulierung – die juristisch standhält und gleichzeitig menschlich akzeptabel ist.
Anschliessend besprechen sie den Fall einer Fremdplatzierung eines Kleinkindes. "Ich habe mit den Pflegeeltern gesprochen, das Kind kann längerfristig bei ihnen bleiben", erzählt die Sozialarbeiterin. Dann hat sie eine juristische Frage an den KESB-Präsidenten: "Die Pflegeeltern würden gerne den Bericht über die Erziehungskompetenzen der Mutter lesen, dürfen sie das?" Hildebrand wiegt den Kopf hin und her. "Das Amtsgeheimnis und der Datenschutz sprechen dagegen, aber ich verstehe das Anliegen der Pflegeeltern." Er überlegt und sagt dann: "Ich möchte das nicht jetzt sofort entscheiden."
Es ist nicht verboten, unvernünftig zu sein
Am Nachmittag versammeln sich alle sieben Teammitglieder in einem hellen Sitzungsraum an einem grossen Tisch. Hier werden gemeinsam heikle Fälle besprochen. Die Idee ist, dass im interdisziplinären Team bessere Entscheide gefällt werden als durch eine Einzelperson. Tatsächlich zeigt sich schnell, dass die Juristin eine andere Perspektive hat als die Psychologin oder der Sozialarbeiter. Die Debatten sind intensiv, die Meinungen gehen auseinander. Einfach machen es sich die Behördenmitglieder nicht mit den Entscheidungen.
Da geht es beispielsweise um einen älteren Mann, der mit einer jungen Osteuropäerin über Internet chattet und ihr regelmässig grosse Geldbeträge überweist, obwohl er sie noch nie gesehen hat. Nach einer Gefährdungsmeldung aus der Verwandtschaft des Mannes hat die KESB das Gespräch mit ihm gesucht, doch jetzt will er mit der Behörde nichts mehr zu tun haben. Die KESB bat den Hausarzt des Mannes um eine Einschätzung. Dieser kam zum Schluss, der Mann sei in Sachen Internetkriminalität vermindert urteilsfähig, weil er sich leicht betrügen lasse. Ansonsten sei er aber bei guter geistiger Gesundheit.
"Wir haben ja vor drei Monaten vereinbart, den Fall zu beobachten", erinnert die zuständige Sozialarbeiterin ihre Kollegen und Kolleginnen. Sie habe in der Zwischenzeit bei der Bank Kontoauszüge bestellt, weil der Mann ihr keinen Einblick in seine Finanzen geben wollte. Die Auszüge zeigen: Der Mann hat sein ganzes Vermögen verbraucht. Im Schnitt überweist er 2'700 Franken pro Monat ins Ausland. Die Sozialarbeiterin konnte zudem in Erfahrung bringen, dass der Mann für zwei Rechnungen bereits betrieben wird.
"Was denkt ihr?", fragt die Sozialarbeiterin in die Runde.
"Haben wir eine Schutzpflicht?", fasst der KESB-Präsident die zentrale Fragestellung zusammen. Die Mitarbeiter schauen sich nachdenklich an und überlegen.
"Es ist nicht verboten, sein Vermögen zu verschenken und über seine Verhältnisse zu leben", meint die Juristin.
Die Sozialarbeiterin gibt zu bedenken, dass der Mann gemäss Einschätzung seiner Verwandtschaft sozial vereinsamt ist, weil er sich keine Ausflüge oder Restaurantbesuche mehr leisten könne.
Schliesslich einigen sich die Mitarbeiter darauf, den Mann noch einmal zu einem abschliessenden Gespräch einzuladen, um ihm die Gefahren aufzuzeigen. "Eine weitergehende Massnahme würde weder der Verhältnismässigkeit noch dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen", sagt Hildebrand auf Juristendeutsch und meint damit, dass die Situation zwar gravierend ist, der Staat aber nicht mit einer erwachsenenschutzrechtlichen Zwangsmassnahme in die Entscheidungsfreiheit dieses Mannes eingreifen darf.
"Wenn deine Familienmitglieder Tiere wären…?"
Nach der Sitzung begleiten wir die Psychologin in ihr Büro unter dem Dach. Der helle Raum wird zur Hälfte von einem Bürotisch mit Computer belegt, in der anderen Hälfte stapeln sich Spielsachen und Kindermöbel. "Hier mache ich die Anhörungen der Kinder", erklärt die Mitarbeiterin, die früher als Schulpsychologin gearbeitet hat. Das heisst: Die Kinder können vor einem Entscheid ihre Meinung und Wünsche äussern, die dann nach Möglichkeit berücksichtigt werden.
Die Psychologin zeigt uns ein Brett mit grossen Holzfiguren. "Mit den Figuren können die Kinder die Familienkonstellation erklären." Diese besteht nämlich häufig nicht einfach nur aus Mutter, Vater und Kinder. Häufig fragt die Psychologin die Kinder auch: "Wenn deine Familienmitglieder Tiere wären, wer wäre dann welches Tier?" Anhand der Tiere kommen die Kinder ins Erzählen und können im Idealfall Eigenschaften und Rollen der Familienmitglieder beschreiben. Viele von der KESB behandelte Fälle sind Besuchsrechtsstreitigkeiten getrennter Eltern.
Sehr selten sind hingegen Fälle von sexuellem Missbrauch. "Statistisch ist das gar nicht möglich. Wir müssen leider davon ausgehen, dass wir von den allermeisten Fällen nie etwas erfahren", sagt die Psychologin. Ihr Ton ist bedauernd und resigniert zugleich. Sie hat offensichtlich gelernt, mit dem Unabänderlichen zu leben.
"Viele Psychologen haben die KESB wieder verlassen", erzählt die Psychologin über die Anfangszeit der KESB in der Schweiz. "Psychologen wollen empathisch sein," erklärt die Mitarbeiterin. "Aber bei der KESB muss man aushalten können, dass man häufig nicht viel machen kann." Es sei eher eine Schadensbegrenzung.
Behördenmitglieder werden beschimpft
Besonders seit der negativen Medienberichterstattung ist es offenbar nicht immer einfach, bei einer KESB zu arbeiten. Nicht nur direkt Betroffene beschimpfen die Mitarbeiter. Auch im eigenen Umfeld stosse man auf Unverständnis, erzählt eine Mitarbeiterin der KESB Gossau.
Der Präsident der KESB in Thun erzählt, dass auf dem Höhepunkt der negativen Medienberichterstattung die Leute stark verunsichert waren und Gespräche verweigerten. "Die Menschen dachten teilweise, die KESB sei eine Verbrecherorganisation."
Bei beiden Behörden – im sankt-gallische Gossau wie im bernischen Thun – räumen mehrere Mitarbeiter die gleichen Mängel ein: Am Anfang sei die noch junge Behörde teilweise überfordert gewesen und habe ungenügend kommuniziert. Beide KESB-Präsidenten sind jedoch optimistisch, dass die meisten Behörden mit der Zeit zu einer Professionalität finden und das negative Image ablegen können.
Allerdings bestätigen bei beiden Behörden mehrere Mitarbeiter, dass die regionalen Unterschiede in der Schweiz recht gross seien. Es versteht sich von selbst, dass die beiden Behörden, die für Medienbesuche offen waren, wohl eher modern und professionell geführt sind.
Es ist bereits späterer Nachmittag, als der Präsident der KESB Gossau an die Tür klopft, um sich zu verabschieden, da er noch einen Termin ausser Haus hat. Das kommt nicht selten vor: Die KESB machen häufig Hausbesuche, gehen zu Patienten in Psychiatrien oder Altersheimen oder machen sich ein Bild von einer vermüllten Wohnung.
Der Beruf als Behördenmitglied einer KESB mag zwar zurzeit vielleicht einer der exponiertesten in der Schweiz sein – aber auch einer der vielfältigsten. © swissinfo.ch
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