Münster, Lügde, Bergisch Gladbach: Kommen in Deutschland besonders viele Fälle von Kinderpornographie und Kindesmissbrauch ans Licht, weil das BKA so gut arbeitet - oder ist die Bundesrepublik ein Hotspot? Wie hat sich die Szene professionalisiert, wie gehen Ermittler persönlich mit den täglichen Grausamkeiten um? Matthias Wenz, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Kinderpornographie beim BKA, gibt Antworten.
Zu Beginn zum Verständnis für unsere Nutzer: Wo liegen die Grenzen dessen, worüber Sie überhaupt mit Journalisten sprechen können?
Wenz: Es gibt viele Fragen, die sensible Bereiche betreffen, zu denen wir aus ermittlungstaktischen Gründen keine Angaben machen können – auch wenn Medienschaffende das natürlich besonders interessiert. Alles was wir tun, erfolgt auf rechtlicher Grundlage, wobei vor allem die Strafprozessordnung sowie das Bundeskriminalamtgesetz handlungsleitend sind. Innerhalb dieses Rahmens haben wir viele Möglichkeiten bei der Ermittlungsarbeit, dabei wollen wir uns natürlich nicht in die Karten gucken lassen. Nur bedingt sprechen wir auch über interne Abläufe, zum Beispiel bei der internationalen Zusammenarbeit.
Aktuell ist das Thema Kindesmissbrauch in den Medien wieder allgegenwärtig - ausgelöst durch die Fälle Lügde, Bergisch Gladbach und Münster. Gibt es vergleichsweise viele Fälle von Kindesmissbrauch in Deutschland oder kommen nur die Fälle so häufig ans Licht, weil die Ermittler so gut sind?
Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil wir das polizeiliche Dunkelfeld nicht kennen. Wir gehen von einem sehr grossen Dunkelfeld aus, sowohl bezüglich des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornographie als auch beim sexuellen Missbrauch. Die Dunkelfeldforschung versucht sich dem Phänomen und der Grössenordnung "über Eck" zu nähern, indem beispielsweise verurteilte Straftäter befragt werden.
Letztendlich sind für die Polizei die Straftaten entscheidend, die bekannt werden. Es handelt sich um sogenannte Kontrolldelikte – entweder die Polizei oder eine andere Instanz stellt mögliche Verstösse fest und leitet Ermittlungen ein bzw. übergibt sie der Polizei. Wir im Bundeskriminalamt bekommen beispielsweise täglich die meisten Hinweise aus den USA übersandt.
Von wem?
Von der halbstaatlichen Organisation "National Center for Missing and Exploited Children" (NCMEC). Sie erhält wiederum von den marktbeherrschenden US-amerikanischen Service-Providern Hinweise auf Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie. Die Meldungen werden weltweit vom NCMEC verteilt, für Deutschland nimmt das BKA sie entgegen und schaut, welche Ermittlungsansätze gegeben sind. Die weitere Sachbearbeitung erfolgt dann bei der jeweiligen Landespolizei. Eine neue Kontrollinstanz wird es ab nächstem Jahr mit der Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes geben. Dabei haben deutsche User in sozialen Medien selbst die Möglichkeit, dem BKA über den Provider Hinweise zukommen zu lassen.
Gibt es denn mehr Fälle als früher, oder kommen einfach mehr ans Tageslicht?
Es kommen zumindest definitiv mehr Fälle ans Tageslicht. Wir verzeichnen insbesondere über unseren hauptsächlichen Hinweisgeber NCMEC eine deutliche Steigerung. Vor zehn Jahren bekamen wir im Jahr insgesamt nicht einmal 100 Hinweise, 2012 waren es bereits 1200 Hinweise, mittlerweile sind wir im letzten Jahr auf 62.000 Hinweise angestiegen. Mit der Einführung des Internets und vor allem des "Web 2.0", welches aktive Beteiligungsmöglichkeiten für Nutzer bietet, haben sich die Fallzahlen schlagartig nach oben verändert. Wir finden heutzutage kaum noch Kinderpornographie in Papierform. Im Grunde spielt sich alles im Internet und Darknet ab. Als entgrenztes Medium bietet das Internet unheimlich viele Möglichkeiten, Straftaten wie die Verbreitung von Kinderpornographie zu begehen.
Wie muss man sich den Arbeitsalltag eines BKA-Ermittlers im Bereich Kinderpornographie-Bekämpfung vorstellen? Besteht der grösste Teil aus Darknet-Recherche, dem Nachgehen von Hinweisen oder wie muss man sich das vorstellen?
Neben den Hinweisen durch das NCMEC betreiben wir auch verdeckte Ermittlungsarbeit im Darknet und bekommen zusätzlich Hinweise von anderen internationalen Partnern mitgeteilt, die in ihren eigenen Ermittlungen auf potentielle deutsche Täter stossen. In aller Regel ist es so, dass das Material, welches morgens reinkommt, zunächst von unseren Mitarbeitern gesichtet wird. Dabei wird geprüft, ob die versandten Bilder und Videos nach deutschem Recht strafbar sind. Ist dies der Fall, gehen wir in der Bearbeitung weiter und schauen selbst bzw. durch einen Abgleich mit Datenbanken, ob wir das Material bereits kennen. Unsere Mitarbeiter versuchen herauszufinden, ob durch das Material ein womöglich laufender Missbrauch dokumentiert wird. In solchen Fällen wird der Hinweis in der Sachbearbeitung vorgezogen, weil die Aufklärung eines noch immer andauernden Missbrauchs natürlich absolute Priorität hat.
Welche Ansatzpunkte gibt es da?
Die schnellste und einfachste Möglichkeit ist es, über die IP-Adresse den Tatort und damit die örtliche Zuständigkeit der Länderdienststellen festzustellen. Weil in Deutschland aber auf Grund der fehlenden Mindestspeicherfristen häufig keine Bestandsdaten von den Zugangs-Providern beauskunftet werden können, gibt es einen grossen Anteil an Fällen, die wir nicht weiter ermitteln können. Allein im letzten Jahr hatten wir 2100 Fälle, die wir deshalb nicht zuordnen und daher nicht aufklären konnten, da die IP-Adresse der einzige Ansatz gewesen wäre.
Andere Ansatzpunkte können sich zum Beispiel aus dem Material selbst ergeben, was aber deutlich aufwändiger in der Auswertung ist. Durch dabei entstehenden Zeitverzug kann es dann auch sein, dass ein Missbrauch weiter andauert.
Hat sich die Szene der Straftäter professionalisiert?
Die professionellen Täter halten sich heutzutage vor allem im Darknet auf. Denn dieser - nur mit einem bestimmten Browser zugängliche Teil des Internets – bietet Anonymisierungsmöglichkeiten, mit denen sich die Täter scheinbar unerkannt bewegen können. Aber auch hier haben wir etliche Ermittlungserfolge erzielt – zuletzt mit der Zerschlagung der Plattform "Elysium", auf der weltweit Kinderpornographie vertrieben wurde. Sie zählte mit über 100.000 Nutzerkonten zu den grössten ihrer Art und konnte 2017 durch deutsche Ermittlungsbehörden abgeschaltet werden. Wer auf eine kinderpornographische Plattform im Darknet kommt, hat schon einiges unternommen, um dorthin zu gelangen. Die Plattformen sind im Darknet nämlich nicht einfach recherchierbar, sodass es schon einiges an krimineller Energie benötigt, um diese zu finden. Die Strafverfolgungsbehörden entwickeln natürlich auch ihre Kenntnisse und Fähigkeiten weiter, es ist aber ein ständiger Wechsel aus "Reagieren und Gegenreagieren" zwischen Ermittlern und Tätern.
Damit Täter sichergehen können, dass es sich nicht um verdeckte Ermittler handelt, verlangen sie von neuen Forenmitgliedern oft das Hochladen von kinderpornographischem Videomaterial. Sollte es Ermittlern auch hierzulande erlaubt sein, selbst kinderpornographisches Material bei verdeckten Ermittlungen hochzuladen, um Vertrauen zu gewinnen?
Das zu entscheiden, ist Aufgabe der Politik. Im Februar hat der deutsche Bundestag bereits die Möglichkeit zum taktischen Posting im Zusammenhang mit der Novellierung der Befugnisse beim Phänomen Grooming geschaffen. In Grooming-Fällen ist es nun auch möglich, dass ein Straftäter, der sich einem vermeintlichen Kind oder Jugendlichen in krimineller sexueller Absicht genähert hat, auch dann strafrechtlich verfolgt werden kann, wenn ein Ermittler den Lockvogel gespielt hat. Es gibt somit von Seiten der Politik die Möglichkeit, das Handwerkszeug der Polizei zu verbessern. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass sehr viele Kinder und Jugendliche, scheinbar ohne darüber nachzudenken, Bilder mit nackten Kindern oder Kindern in sexuellen Posen selbst weitergeben.
Kinder und Jugendliche verteilen also selbst kinderpornographisches Material weiter?
Ja, ob als Mutprobe oder aus Leichtsinn: Es scheint bei vielen Kindern und Jugendlichen noch nicht angekommen zu sein, dass es sich dabei um eine strafbare Handlung handelt. Das BKA hat dazu bereits im Vorjahr die Operation "Leichtsinn" ins Leben gerufen und mehr als 20 Objekte bundesweit durchsucht, in denen Beweismittel wie Handys, Playstations oder Laptops beschlagnahmt wurden. Für die Behörden bedeutet dieses Phänomen einen grossen Aufwand. Aus unserer Sicht wäre es besser, die Ressourcen zur Ermittlung von Missbrauchstätern einzusetzen.
Was macht das mit den Beamten, wenn sie ständig mit Horrorszenarien konfrontiert sind?
Man kann sich die menschlichen Abgründe, die sich hinter den Bildern und Videos verstecken, tatsächlich nicht vorstellen, bis man sie gesehen hat. Und nicht jeder kann mit der Bearbeitung solcher Fälle umgehen. Besonders der Ton bei Videos ist oft sehr belastend. Bei uns arbeitet jeder freiwillig, niemand wird gezwungen solches Material anzuschauen und wir haben eine enge psychologische Begleitung – vor und während einer Verwendung. Man kann jederzeit sagen "Ich möchte nicht mehr" und signalisieren, dass man in eine andere Verwendung wechseln möchte. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Regel nicht alleine im Büro, sodass Kollegen auch gegenseitig auf sich achten. Es gibt Polizisten, die können keine Leichensachen bearbeiten, bei uns müssen Ermittler leider mit dieser Art von Grausamkeit zurechtkommen. Wir geben interessierten Kolleginnen und Kollegen deshalb stets vorab die Möglichkeit, sich ein Bild von unserer Arbeit zu machen. Letztlich ist es auch die Chance, Leid zu beenden, die uns motiviert.
Was denken Sie über die Täter? Handelt es sich für Sie um Monster oder bemitleidenswerte Kranke?
Weder noch. Wir müssen einen professionellen Blick auf Täter und Opfer haben: Wenn wir anfangen, subjektiv zu werden, geht uns die für die Ermittlungsarbeit absolut notwendige Objektivität verloren. Zudem müssen wir für das Strafverfahren sowohl nach be- als auch entlastenden Beweisen suchen, also objektiv vorgehen
Im BKA sind wir ausserdem eher selten mit der Vernehmung von Opfern und Tätern oder der Erstellung des Tatortbefundes beauftragt und können dadurch innere Distanz schaffen. Die Beamten vor Ort haben hier sicherlich noch einmal andere Belastungen.
Härtere Strafen, ein sensibleres Umfeld, mehr Eingriffsmöglichkeiten für Behörden - Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, damit mehr Opfer geschützt und gerettet werden können?
Eltern sollten genau hinschauen, was ihre Kinder mit Smartphones, Tablets und Laptops machen! Wir erhalten sehr oft selbst aufgenommene Bilder und Videos, wo Kinder angelockt, verleitet und teilweise von Tätern erpresst wurden. Das bereitet uns viel Arbeit. Auch das Thema Mindestspeicherfristen beschäftigt uns noch immer: Wenn wir einen eindeutigen Hinweis haben, diesem aber nicht nachgehen können und Vorgänge quasi wegwerfen müssen, ist das nicht zufriedenstellend. Dieses Instrument wünschen wir uns an die Hand.
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