Drei Kinder oder mehr - das gilt als "kinderreich". Vor hundert Jahren ganz normal, sind Familien mit vielen Kindern heute selten. Dabei müsste Kinderreichtum wegen der alternden Gesellschaft stärker gefördert werden, fordern Experten und legen interessante Zahlen vor.
Mutter, Vater, zwei Kinder - die "Standardfamilie" wird gerne herangezogen für Beispielrechnungen bei der Steuer oder wenn es um Familienpolitik geht. Dabei müssten die Politiker ihren Blick viel stärker auf Familien mit mehr Kindern richten und diese fördern.
Kinderreichtum gegen alternde Gesellschaft
Zu diesem Schluss kommt das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in einer Studie, die am Mittwoch in Berlin vorgelegt wurde. Die Wissenschaftler haben untersucht, wo in Deutschland Kinderreichtum besonders verbreitet ist und wo nicht, welche Faktoren für Kinderreichtum ausschlaggebend sind und was passieren muss, damit sich mehr Eltern für mehr Kinder entscheiden.
Kinderreichtum gegen alternde Gesellschaft "Familienpolitisch wird Kinderreichtum in Deutschland nicht gezielt gefördert", schreiben die Autoren. Die erhebliche Bedeutung der kinderreichen Familien für die demografische Nachhaltigkeit stehe in erheblichem Kontrast zu ihrem Stellenwert in Politik und Gesellschaft.
Übersetzt: Wer wirklich die alternde Gesellschaft verjüngen will, der muss sich viel mehr um diejenigen kümmern, die viele Kinder haben. Und um die, die gerne mehr Kinder hätten, aber lieber davon Abstand nehmen.
Denn das ist die Lage in Deutschland: Fast vierzig Jahre lang, seit 1975 lag die Zahl der Geburten bei unter 1,5 pro Frau. "Kein anderes Land der Welt hatte über einen so langen Zeitraum derart niedrige Geburtenziffern", heisst es in der Studie. Im Ergebnis gibt es heute weniger potenzielle Eltern, was wiederum die absoluten Geburtenzahlen in Deutschland weiter niedrig hält. "Insbesondere für die Sozialversicherungssysteme sind die Folgen gravierend", so die Bevölkerungsforscher. Der Anteil der Rentner bezogen auf 100 Erwerbstätige werde sich aufgrund des langanhaltenden Geburtentiefs zwischen 2000 und 2035 verdoppeln. Die Empfehlung der Experten: Wenn die Geburtenrate wieder ansteigen soll, dann muss die Politik "Hindernisse für dritte Geburten" beseitigen. Viele Frauen und Männer, die sich drei oder mehr Kinder wünschen, setzten diesen Wunsch nicht um, sagte Martin Bujard, Forschungsdirektor am BiB der Deutschen Presse-Agentur. Er plädiert für eine bessere Infrastruktur für Familien vor Ort, mehr Wohnungen mit fünf oder sechs Zimmern und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Westen kinderreicher als der Osten
Es gibt heute rund 1,4 Millionen kinderreiche Familien in Deutschland und grosse regionale Unterschiede. Die Studie schlüsselt das bis auf Land- und Stadtkreise hinunter auf: Spitzenreiter ist der Kreis Cloppenburg in Niedersachsen. Jede vierte Frau der Jahrgänge 1970 bis 1972 hat hier drei oder mehr Kinder. Im Kreis Dessau-Rosslau in Sachsen-Anhalt ist es dagegen nur jede 14. Frau. Ursachen für die Unterschiede gibt es viele - das reicht von der Bevölkerungsstruktur bis hin zu regionalen und kulturellen Gegebenheiten.
Frauen mit Migrationshintergrund in der ersten und zweiten Generation und Frauen mit niedrigerem Bildungsabschluss haben öfter drei oder mehr Kinder.
In Ländern wie Bayern oder Rheinland-Pfalz mit ebenfalls vergleichsweise vielen kinderreichen Frauen spiele die "ländliche Siedlungsstruktur" eine Rolle und die katholische Bevölkerung, "welche eher das Ideal einer höheren Kinderzahl vertritt". Im Osten dagegen ist die Bevölkerung eher protestantisch geprägt oder konfessionslos und traditionell gehen viele Frauen arbeiten, was sich schwerer vereinbaren lässt mit mehr als zwei Kindern.
Mehr Anerkennung für kinderreiche Familien
Den Forschern ist ein Punkt besonders wichtig: gesellschaftliche Akzeptanz. Damit sich noch mehr Eltern für mehr Kinder entscheiden, sei "die politische und gesellschaftliche Anerkennung kinderreicher Familien von zentraler Bedeutung". Jahrzehntelang sei ein negativer Zusammenhang zwischen Bildung und Kinderreichtum hergestellt worden - das habe zu einer Stigmatisierung von kinderreichen Familien beigetragen. Bezeichnend dafür ist eine Umfrage, auf die die Studie verweist: Zwar stimmt nur jeder Zehnte persönlich der Aussage zu, "Kinderreiche gelten als asozial", aber gut 80 Prozent der Befragten glauben, dass die Gesellschaft insgesamt so denkt. © dpa
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