Sind Grossveranstaltungen für Frauen gefährlich? Deutschland ist nach einer Welle sexueller Übergriffe in der Silvesternacht in Köln unter Schock. Auch in der Schweizer Metropole Zürich kam es am 31. Dezember zu ähnlichen Vorfällen. Nach Einschätzung einer Expertin für Selbstverteidigung müssen die Frauen ihrer Angst nicht nachgeben, sondern ihr Selbstvertrauen verbessern.

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"Das Gefühl der Angst nimmt in der weiblichen Bevölkerung zu", stellt Patricia Maisch Sturny fest. Sie ist Vorstandsmitglied des Vereins Pallas, der Selbstverteidigungs-Kurse vermittelt, die vor allem für Frauen bestimmt sind.

Seit den Angriffen auf Frauen während der Silvesternacht in der deutschen Stadt Köln stellt die Ausbildnerin eine Zunahme von Anfragen fest. "Seither sind im Sekretariat rund ein Dutzend eingetroffen, was für eine solch kurze Zeitspanne ausserordentlich ist."

Angreifer stammen meistens aus der Familie

Patricia Maisch Sturny betont allerdings, dass statistisch gesehen eine Frau eher von einem Angehörigen angegriffen wird als von einem Fremden im öffentlichen Raum. Auch würden Männer häufiger Opfer von Aggressionen auf der Strasse als das weibliche Geschlecht.

"Dennoch haben immer mehr Frauen Angst. Einige wagen sich nicht mehr, am Abend alleine auszugehen." Medienberichte über Angriffe würden diese Ängste fördern, sagt sie und befürchtet, dass die Exzesse der Silvesternacht das Klima der Unsicherheit noch verschärfen.

Stigmatisierung droht

Die Tatsache, dass es sich bei den Tätern mehrheitlich um Ausländer handelt, lässt die Frage über kulturelle Unterschiede aufkommen. Kann ein anderes Frauenbild zu solch gewalttätigen Übergriffen führen?

"Bei Männern, die aus einer Region stammen, in der die Bedingungen für Frauen nicht die gleichen sind wie hier, deren persönliche Situation schwierig ist und die orientierungslos sind, ist es möglich, dass westliche Frauen, deren Werte für sie negative Assoziationen hervorrufen, zur Zielscheibe werden."

Maisch Sturny befürchtet allerdings eine Stigmatisierung, die nur dazu dienen würde, "das Gefühl der Angst und Ohnmacht in einem Teil der Bevölkerung zu erhöhen". Ihrer Meinung nach muss die Politik in der Zukunft Lösungen finden, damit neue Übergriffe vermieden werden können.

Bestürzung und Verunsicherung

Das Phänomen scheint jedenfalls neu zu sein. In der Schweiz sind die Beobachter perplex. Beim Kriminologen und Chef der Neuenburger Kriminalpolizei, Olivier Guéniat, werfen die Ereignisse vom 31. Dezember gewisse Fragen auf.

"Im Kanton Neuenburg wurden wir bislang nie mit sexuellen Übergriffen an Grossveranstaltungen konfrontiert, die von Gruppen organisiert wurden, wie das in Köln passiert ist. Natürlich gibt es bei uns einzelne punktuelle Aggressionen, aber kein solches Phänomen. Meines Wissens ist das in der Schweiz in diesem Ausmass noch nie vorgekommen, und die Meldung aus Zürich ist eine Premiere."

Auch in den Kreisen, die sich mit Prävention befassen, ist man erstaunt.

"Diese von Gruppen organisierten gewaltsamen Übergriffe stellen ein neues Phänomen dar. So etwas haben wir in der Schweiz noch nie erlebt, auch wenn wir wissen, dass während Grossveranstaltungen individuelle Fälle gemeldet werden, bei denen Alkohol im Spiel war", erklärt Chantal Billaud von der Schweizerischen Kriminalprävention (SKP).

Derzeit keine Präventionskampagne

Auch wenn die SKP den Frauen verschiedene Ratschläge erteilt, um sich vor sexueller Gewalt durch Unbekannte zu schützen, gibt es zurzeit keine Präventionskampagne gegen Aggressionen an Veranstaltungen.

"Wir haben noch nicht darüber nachgedacht, aber wir werden uns damit befassen", sagt Billaud. Sie unterstreicht auch, dass die Prävention sich nicht nur an die Opfer, sondern auch an die Urheber und den sozialen Kontext richten müsse.

"Vielleicht tönt das naiv, aber der beste Rat, den man den Frauen geben kann, um sich vor allfälligen Übergriffen während Grossveranstaltungen zu schützen, ist, in Gruppen unterwegs zu sein", empfiehlt die Expertin. Sie betont aber, dass Prävention nicht dazu führen sollte, dass die Frauen sich aus dem öffentlichen Raum zurückziehen. "Man muss auf mehreren Ebenen in der Gesellschaft aktiv werden, vor allem müssen auch die kulturellen Werte zur Sprache kommen, die wir verteidigen wollen."

Kein Anstieg der Zahlen

Auch bei der Opferhilfe des Kantons Waadt gibt es keine Lawine von Beratungen.

"In den letzten Jahren stellten wir eine deutliche Zunahme von Mädchen fest, die wegen sexueller Beziehungen zu uns kommen, mit denen sie nicht einverstanden sind und die im Zusammenhang mit übermässigem Alkoholkonsum stehen. Wir haben aber noch nie von mehrfachen und organisierten Aggressionen wie in Köln gehört", sagt Christophe Dubrit, verantwortlich für die Opferhilfe Waadt, die sich um jene Personen kümmert, die eine direkte Gefährdung ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität erlitten haben.

Wenn auch alle Personen, die in die Beratungszentren kommen, behandelt werden, so betont Dubrit doch, dass die Opfer, die aufgrund des Opferhilfegesetzes als solche anerkannt werden, eine schwere Verletzung erlitten haben müssen. "Die Gefährdung geht über Unannehmlichkeiten und die Erwähnung sexueller Nötigung hinaus", präzisiert er.

Berührung des Gessässes ist eine "Unannehmlichkeit"

Dubrit erklärt, dass eine kurze Berührung des Gesässes über eine Hose zum Beispiel gemäss Strafgesetzbuch eine Unannehmlichkeit darstellt. Das Opfer einer Unannehmlichkeit kann Klage einreichen und der Täter riskiert eine Busse.

Bei sexueller Nötigung müssen länger anhaltende Berührungen vorliegen, zum Beispiel, wenn die Hand des Aggressors unter die Kleider des Opfers gleitet. Diese Art Vergehen kann mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden.

Die Statistiken der Schweiz zeigen keinen Anstieg von Beeinträchtigungen der sexuellen Integrität auf. Das Bundesamt für Statistik (BFS) verzeichnete 2014 insgesamt 6484 Fälle, 2013 waren es 7239.

Selbstvertrauen als Waffe

Auch wenn die gewalttätigen Übergriffe in der Neujahrsnacht ein neues Phänomen sind, von dem die Schweiz bislang nicht betroffen ist, so bestehen die Ängste dennoch, und Patricia Maisch Sturny, die Expertin für Selbstverteidigung, will sie bekämpfen.

Das Hauptziel ihrer Kurse ist nicht, den Frauen beizubringen, wie sie hart zuschlagen, sondern wie sie sich verteidigen können. "Die Mädchen werden darin geschult, ihre Kräfte nicht einzusetzen. Man sagt ihnen, sie hätten keine und sollten nicht zuschlagen", erklärt sie.

Einer der Hauptpfeiler bei Maisch Sturnys Unterricht ist die Entwicklung von Selbstvertrauen. Sie lehrt ihren Schülerinnen auch, wie man klare Grenzen setzt.

"Manchmal sind ein 'Nein' und eine körperliche Haltung der Stärke eine Bremse gegenüber der Aggression", betont sie. Jede Frau müsse klar definieren, was sie wolle und was nicht, was sie akzeptiere und was sie ablehne.

Trillerpfeife macht auf Gefahr aufmerksam

In der Gruppe bleiben, zu seinen Freunden schauen und Lärm machen, wenn es Probleme gibt, sind die wichtigsten Empfehlungen der Ausbildnerin für Grossveranstaltungen. Sie rät den Frauen, sich eine Trillerpfeife zu besorgen, die auf eine Gefahr aufmerksam macht, wenn nötig, auch wenn man vor lauter Angst gelähmt ist.

"Die Vorfälle von Köln sind beunruhigend, denn sie schaffen ein Klima der Angst, das die Lebensqualität der Frauen verschlechtert. Ich befürchte, dass sich die Empfehlung der Gesellschaft an die Frauen, zu Hause zu bleiben, verstärken wird", bedauert Maisch Sturny.   © swissinfo.ch

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