- In den meisten europäischen Staaten werden die Massnahmen im Kampf gegen Corona zurückgefahren und das öffentliche Leben kehrt vollständig zurück.
- In Chinas Metropole Shanghai sieht die Welt jedoch anders aus. Die Regierung hat einen strengen Lockdown erlassen, um die Omikron-Variante in den Griff zu bekommen.
- 26 Millionen Einwohner sind nun schon wochenlang zu Hause eingesperrt. So ist die Lage in der Zero-COVID-Stadt Shanghai.
Während in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Anti-Corona-Massnahmen trotz hoher Zahlen Schritt für Schritt zurückgefahren wurden, hat die Stadtregierung Shanghais nach einer Häufung von Omikron-Fällen hart durchgegriffen. Die hochansteckende, aber etwas mildere Variante des Coronavirus hat in Deutschland und anderen Ländern dazu geführt, dass der Blick von der Sieben-Tage-Inzidenz hin zur Frage nach der Auslastung der Krankenhäuser und der Hospitalisierungen gerichtet wurde.
Nicht so jedoch auf Basis der Zero-COVID-Strategie der Stadtregierung Shanghais. Einzelne Corona-Fälle hatten bereits Massentestungen nach sich gezogen. Etwas mehr als 25.000 Neuinfektionen, eine im Vergleich zu Deutschland geringe Zahl, führten dann zur Ausrufung des absoluten Lockdowns am 1. April.
Lockdown-Berichte aus Shanghai: Was alles verboten ist
Im strengen Lockdown dürfen die Bürger ihre Wohnung nicht verlassen. Spaziergänge, Sport, Einkaufen oder das Ausführen von Haustieren sind verboten. Ansonsten darf das Haus nur mit Sondergenehmigung oder wenn ein Corona-Test angeordnet wird verlassen werden. So streng die Ausgangssperre, so streng die Kontrolle ihrer Einhaltung: Auf Twitter war ein Video aufgetaucht, in dem ein Roboterhund durch die Strassen Shanghais läuft und über eine Lautsprecheransage die Menschen an die Massnahmen erinnert.
Auch der Einsatz von Drohnen ist bereits durch Videos nachgewiesen worden. "Roboterhunde, Polizeidrohnen und solche Dinge werden tatsächlich eingesetzt und sorgen für Schlagzeilen. Aber in der Praxis bewirken sie nicht viel. Am Ende sind es Menschen, die andere Menschen überwachen", erklärt Vincent Brussee, Analyst des Mercator-Instituts für China-Studien im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Nach Angaben des Analysten sind in jedem Stadtbezirk die Mitglieder der Partei hauptverantwortlich für die strenge Überwachung. Zusätzlich zu den harten Massnahmen seien auch Strassen gesperrt und der öffentliche Nahverkehr sei fast vollständig eingestellt worden. Kein Wunder, dass bei einer solchen Härte in den Medien von "Corona-Diktatur" (ntv) oder auch "Chinas Zero-COVID-Totalitarismus" (Cicero) die Rede ist.
Bewohner berichten über Lebensmittel-Knappheit
Weil der Lockdown kurzfristig angekündigt und schnell umgesetzt wurde, konnten viele Stadtbewohner sich nicht mit entsprechenden Lebensmittelvorräten im Voraus eindecken. Es ist zwar möglich, über Online-Bestellungen an Nahrung zu kommen, doch aufgrund der hohen Nachfrage ist auch das sehr schwierig. Laut "New York Times" berichten Bewohner, dass die Läden bereits morgens ausverkauft sind und die Lieferungen durch die Stadtregierung schlecht funktionierten.
Entgegen dieser Berichte hatte Chen Tong, der stellvertretende Bürgermeister von Shanghai, in einer Pressekonferenz am Donnerstag (7. April) verkündet, dass ausreichend Lebensmittelvorräte vorhanden seien. Es gebe lediglich einige logistische Schwierigkeiten aufgrund der Pandemiebekämpfung.
"Wir wollen nur essen"
Obwohl der chinesische Propaganda-Apparat darum bemüht ist, keine Videos und kritischen Posts in den sozialen Medien zuzulassen und Informationen möglichst zu begrenzen – schliesslich dürfen auch Journalisten in der Stadt ihre Häuser nicht verlassen –, dringen dennoch täglich neue Videos und Posts nach aussen. Wenngleich die Echtheit solcher Aufnahmen nicht immer zweifelsfrei festgestellt werden kann, ist eines klar: Der Unmut der Menschen, die unter dem Lockdown leiden, nimmt zu.
Die "New York Times" berichtet von Menschen, die aufgrund ihres Hungers aus den Fenstern schreien oder aus Protest Töpfe und Pfannen aneinanderschlagen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein Video auf sozialen Medien, das laut der Zeitung aus dem Bezirk Baoshan stammt, zeigt Menschen, die aus ihren Häusern heraus Nahrungsmittel fordern: "Wir wollen nur essen, ist das so schwer?"
Erschütternde Berichte: "Emotionaler Kipppunkt"
Die erschütternden Videos und Berichte bringen nun offenbar sogar nationalistische Kommentatoren dazu, das Leid der Menschen in Shanghai ernst zu nehmen. Hu Xjin, ehemaliger Redakteur der "Global Times", einer staatlichen Boulevardzeitung, hatte in den sozialen Medien am Samstag (9. April) sein Verständnis geäussert. Er schrieb von einem "emotionalen Kipppunkt", den die Bewohner erreicht hätten. Das Statement ist in den sozialen Medien nicht mehr zu finden, aber in einem Artikel der "New York Times" festgehalten:
"Die Abriegelung ist ein extremer, vorübergehender Regierungszustand und unsere Städte sind nicht für solche Umstände gebaut. Während dieser Zeit ist es unwahrscheinlich, dass die Versorgung mit Materialien ein normales Niveau erreicht. Wir sollten darüber sprechen, anstatt nur über die guten Dinge zu reden", so der pensionierte Journalist. Solche kritischen Stimmen prominenter Leute innerhalb Chinas sind aufgrund der Repression und Zensur des chinesischen Propagandaapparats aber eine Seltenheit.
Nahrungsmittel-Knappheit: Lockdown soll leicht gelockert werden
Ähnlich schätz auch der China-Experte Brussee die Lage rund um die Versorgung mit Lebensmitteln in Shanghai ein. Es gebe genug Lebensmittel, aber die Logistik sei das Problem. "Man hört immer wieder von Menschen, die tagelang per Telefon versuchen, auch nur ein kleines bisschen Essen zu bekommen", so Brussee. Anfang der Woche (11. April) wurden nun erste Lockerungen auf den Weg gebracht, um die Situation zu entspannen. In Bezirken, in denen seit 14 Tagen keine Neuinfektion auftrat, dürfen Bewohner wieder einkaufen gehen. Bei erneuten Infektionen können die Stadtviertel aber wieder abgeschottet werden.
Wie angespannt die Lage um die Lebensmittelversorgung tatsächlich ist, zeigt auch eine Stellungnahme des US-Aussenministeriums, das sein nicht zwingend notwendiges Personal aus Shanghai per Dienstanweisung abgezogen hat. Ausserdem riet das Ministerium Amerikanern in der Stadt, sich mit ausreichend Geld, Nahrung, Medizin und anderen Bedarfsgegenständen einzudecken.
USA warnen vor Reisen nach Shanghai: Risiko der Trennung von Eltern und Kindern
Die Vereinigten Staaten haben darüber hinaus aufgrund der strengen Corona-Massnahmen einen Reisehinweis für die Volksrepublik China ausgesprochen, der den Unmut der chinesischen Regierung nach sich gezogen hat. Darin heisst es: "Reisen Sie nicht in die Sonderverwaltungszone (SVR) Hongkong, die Provinz Jilin und die Stadt Shanghai aufgrund der mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen, einschliesslich des Risikos der Trennung von Eltern und Kindern."
Berichte über die Trennung von Kindern und Eltern hatte es im Kontext der Massentestungen in Shanghai gegeben. Wer ein positives Ergebnis erhält, wird in eines der Quarantäne-Zentren gebracht. Wenn die Eltern eines Kindes negativ, das Kind aber positiv getestet wurde, war es zu Trennungen gekommen. Das hat die Stadtregierung nach einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP mittlerweile zugegeben. Das werde aber laut China-Experte Vincent Brussee so nicht mehr praktiziert.
Volle Quarantänezentren, leere Strassen
Dennoch klingt sein Bericht von den Quarantänezentren in China alles andere als einladend: "Dort sind Tausende, manchmal Zehntausende Menschen in einer grossen Halle - jeder bekommt nur ein Bett und einen Schreibtisch. Man wird täglich getestet und darf erst wieder raus, wenn man mehrere negative Testergebnisse hintereinander bekommt", berichtet der Experte. Auch die Kontaktpersonen positiver Menschen würden in die Zentren gebracht. Wer gegen die Quarantäne verstösst, müsse mit Geldstrafen oder sogar Inhaftierung rechnen.
Auf den Strassen ist es, abgesehen von den Menschen, die in einigen Viertel zum Einkaufen gehen dürfen, entsprechend leer. Bettina Schön-Behanzin von der Europäischen Handelskammer in Shanghai beschreibt die Situation bei "tagesschau.de" als Ausnahmezustand: "Es ist eine Geisterstadt. Sie sehen keine Menschen, keine Autos auf den Strassen und man hat hier eine Stimmung von Angst." Aufgrund des neuerlichen Lockdowns in Shanghai rechnet sie mit einer Massenabwanderung von ausländischen Arbeitskräften.
Lockdown in Shanghai zieht wirtschaftliche Auswirkungen für Weltmarkt nach sich
Bereits die letzten zwei Jahre der Pandemie mit den strikten Einreise- und Quarantänebedingungen hatten nach Angaben der Handelskammer zu zunehmenden Abwanderungswünschen geführt. Für Unternehmen stelle sich nun die Frage, wie sie unter den strikten Massnahmen in China weiter agieren sollen und ob sich künftige Investitionen in China mit der Aussicht auf restriktive Einschränkungen noch lohnten. Dabei haben einige umsatzstärkste Konzerne der Welt ihre Produktionsstätten in Shanghai und der Hafen der Metropole ist für den Weltmarkt vor allem in Bezug auf die Elektronikbranche sehr wichtig.
In Shanghai mussten alle Unternehmen ihre Produktion stilllegen, die keine lebensnotwendigen Gegenstände herstellen. Dazu gehörten laut "Nikkei Asia" auch zwei Firmen, die für Apple MacBooks und iPhones produzieren. Wie lange die Einschränkungen noch bestehen, ist unklar; genau wie die Frage, ob sich aus den Massnahmen Lieferengpässe für den Weltmarkt ergeben werden.
Bizarrer Bericht aus China: Tötung von Haustieren angekündigt
Den Menschen in den Quarantäne-Zentren und im Lockdown in Shanghai dürfte diese Frage jedoch herzlich egal sein. Sie wollen nur, dass der Lockdown so schnell wie möglich endet, um nicht mehr unter den menschenunwürdigen Bedingungen leben zu müssen, die sie teilweise in Lebensgefahr bringen. Der Büroleiter der "New York Times" in Peking, Keith Bradsher, hatte nämlich zuletzt von einem Feuer berichtet, das in der Nähe eines der Quarantäne-Zentren ausgebrochen war, in dem Tausende Menschen eingeschlossen waren.
Zwar konnte das Feuer relativ schnell unter Kontrolle gebracht werden, doch die Möglichkeit einer Katastrophe hatte durchaus bestanden. Gleichsam berichtet Bradsher – neben den bekannten Massnahmen, die Menschen betreffen – von Überlegungen in einer anderen chinesischen Provinz, alle Haustiere von Personen, die positiv getestet wurden, zu töten.
"Diese Ankündigung wurde später zurückgenommen. Wir haben Szenen gesehen, in denen medizinisches Personal Mundschleimhautabstriche von Haustieren genommen hat. Das ist besser als die Tötung aller Haustiere infizierter Personen, aber es gibt keine Informationen darüber, was mit den positiv getesteten Haustieren geschieht", berichtet Bradsher.
Lockdown in Shanghai: Ausgang ungewiss
Die eigentlichen Fehler der chinesischen Regierung in ihrem Pandemie-Management seien dabei nach wie vor nicht erkannt worden, so Bradsher: "Zu diesen Fehlern gehören die Weigerung, mRNA-Impfstoffe zu importieren, und das Fehlen einer wirklich nachhaltigen Anstrengung des Landes, alle Menschen ab 80 Jahren zu drei Impfdosen zu bewegen."
Wie es nun vor allem in Shanghai weitergeht, ist ungewiss. Der Lockdown zu Beginn der Pandemie beim ursprünglichen Ausbruch in Wuhan hatte Anfang des Jahres 2020 zweieinhalb Monate gedauert. China-Experte Vincent Brussee hält es vor diesem Hintergrund durchaus für möglich, dass der Lockdown in Shanghai möglicherweise bis Ende Mai andauert.
Der wohl einzige Anlass für Hoffnung für die Bevölkerung Shanghais: Die Metropole ist ökonomisch so bedeutend, dass ein frühzeitiges Ende des Lockdowns notwendig werden könnte, um weiteren wirtschaftlichen Schaden zu vermeiden.
Verwendete Quellen:
- asia.nikkei.com: Shanghai, Kunshan lockdowns hit iPhone, Mac and iPad makers
- audionow.de: Wieder was gelernt – der ntv Podcast. So brutal ist Shanghais Corona-Diktatur
- nytimes.com: Many Shanghai residents say COVID lockdown measures have caused food shortages
- nytimes.com: Shanghai residents bristle as lockdown enters a second week with more testing
- nytimes.com: Shanghai’s unsparing lockdown
- china.usembassy-china.org.cn: U.S. Mission China’s statement on the ordered departure for U.S. Consulate General Shanghai
- asia.nikkei.com: Shanghai, Kunshan lockdowns hit iPhone, Mac and iPad makers
- twitter.de: Fabian Eberhard
- travel.state.gov: China Travel Advisory
- reuters.com: Shanghai vows to improve food deliveries as discontent grows over COVID curbs
- tagesschau.de: Lockdown mit Langzeitfolgen
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