Bandenkriege, Messerstechereien, Schiessereien: Meldungen über Gewaltverbrechen in der britischen Hauptstadt London häufen sich. Seit Beginn des Jahres wurden mehr als 60 Menschen Opfer tödlicher Angriffe. Die Politik wirkt mit der Situation zunehmend überfordert – und relativiert die Probleme.
Es sind Geschichten wie diese, die mittlerweile sinnbildlich für die Probleme Londons stehen: "Unschuldiger Junge (13) auf dem Heimweg von einer Hochzeit angeschossen", titelte der "Telegraph" Anfang der Woche.
Was war passiert? Ein Drogendeal lief mutmasslich schief, der Teenager geriet in die Schusslinie und wurde von einer Schrotkugel getroffen. Ebenfalls verletzt aufgefunden wurde ein 15-Jähriger, dem das Attentat nach ersten Erkenntnissen eigentlich galt.
Zwei Heranwachsende liegen nach einem geplatzten Drogendeal mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus. Und die Menschen in London sind erschüttert – mal wieder. Denn über 60 Menschen kamen in den ersten Monaten des Jahres bereits gewaltsam ums Leben.
Wachsendes Geschäft mit Drogen
Opfer und Täter haben in vielen Fällen eines gemeinsam: Sie sind minderjährig und dunkelhäutig. Jugend-, Drogen- und Bandenkriminalität haben die Stadt im Würgegriff.
Der Politiker David Lammy, Abgeordneter für den Ortsteil Tottenham, schlug vor Kurzem in einem Radio-Interview mit der BBC Alarm. Er sieht die Hauptursache für die Morde in Bandenkriegen, die vom wachsenden Geschäft mit Drogen zusätzlich befeuert werden: "Wir sind der Drogenmarkt Europas und trotzdem höre ich kein Wort darüber, wie wir das ändern wollen."
Ihm zufolge hat allein der Kokain-Markt einen Wert von über elf Milliarden Euro erreicht. "Es ist wie Deliveroo. An Drogen zu kommen ist genauso leicht wie eine Pizza zu bestellen. Du kannst sie dir über Snapchat oder WhatsApp besorgen."
"Es ist ein nationales Problem"
Wer die florierende Drogenszene als primären Grund für den Gewaltanstieg anführt, mag auf den ersten Blick Recht haben. Drogen sorgen für Revierkämpfe, Revierkämpfe haben Verletzte oder Tote zur Folge, Verletzte oder Tote schüren ein Klima der Angst, in dem Bewaffnung mit Messern oder Schusswaffen für manche zum nötigen Übel wird.
Die Aussagen von Londons Bürgermeister Sadiq Khan lassen allerdings vermuten, dass diese Rechnung deutlich zu kurz greift: "Es ist ein nationales Problem. […] Du kannst nicht 40 Prozent bei der Metropolitan Police (Polizeibehörde für den Grossraum London, Anm. d. Red.) und 46 Prozent bei der Jugendförderung in London streichen und erwarten, dass das keine Konsequenzen nach sich zieht", sagte er ebenfalls der BBC.
Kein Ende in Sicht
Erst das hohe Mass an Perspektiv- und Arbeitslosigkeit in den jungen Bevölkerungsschichten würde den Gangs den grossen Zulauf ermöglichen. Sind die Morde also eine Folge des Geschäfts mit den Drogen, das wiederum ein Resultat verfehlter Sparpolitik ist?
Es sind diese und ähnliche Diskussionen, in die sich die Verantwortlichen verstricken, während von den Strassen Londons fast täglich neue Übergriffe gemeldet werden, deren Opfer auch immer wieder Nicht-Gang-Mitglieder sind.
Das Messer als Waffe
Bei mehr als der Hälfte der tödlichen Delikte kam bislang ein Messer zum Einsatz. Damit liegt London im landesweiten "Trend". Seit 2014 verzeichnen die Strafverfolgungsbehörden ein deutliches Plus bei Angriffen mit Klingen. Im Jahr 2017 waren es in England und Wales mehr als 37.000 Fälle, wie der "Guardian" berichtet.
Doch an keinem Ort der britischen Insel kommen derzeit so viele Menschen gewaltsam ums Leben wie in der Hauptstadt. Die Mordrate stieg laut der Verbrechensstatistik der Met Police zwischen März 2017 und März 2018 um 44 Prozent.
Was die Zahlen wirklich aussagen
"London ist jetzt gefährlicher als New York" – diese Worte prangten Anfang April auf nahezu jeder Titelseite im Vereinigten Königreich. Die "Sunday Times" hatte einen Bericht veröffentlicht, demzufolge im Frühjahr 2018 die Mordrate in der britischen Hauptstadt erstmals in der jüngeren Geschichte höher war als im "Big Apple".
Die Zahlen lügen nicht: Im Februar registrierte die Met Police 15 Morde, die Kollegen vom NYPD deren elf. Im März waren es in London 22, in New York 21. Da beide Metropolen ungefähr 8,5 Millionen Einwohner haben, ist ein Vergleich durchaus legitim.
Alles eine Frage der Perspektive?
Ein Blick in die jährlichen Kriminalstatistiken offenbart allerdings grosse Unterschiede. Im vergangenen Jahr kamen in New York 290 Menschen gewaltsam zu Tode (die niedrigste Zahl seit 70 Jahren), in London 116. Selbst in Berlin (3,6 Millionen Einwohner) waren es 91 Tote.
Alarmierend ist also weniger die Zahl der Morde, sondern vielmehr der Anstieg der Mordrate. Statistisch gesehen zählt London damit immer noch zu den sichersten Grossstädten – auch wenn die öffentliche Wahrnehmung mittlerweile eine völlig andere ist.
So schlug Sophie Linden, Londons Vize-Polizeichefin, zuletzt eine Welle der Empörung entgegen, nachdem sie in einem Interview angemerkt hatte: "Ich weiss, dass es im Angesicht dieser schrecklichen Verbrechen eine schwierige Botschaft ist, aber London ist nach wie vor eine der sichersten Städte der Welt."
Was die Vorfälle für Touristen bedeuten
London ist für deutsche Urlauber in Europa eine der Top-Adressen. Daran dürften auch die jüngsten Vorfälle wenig ändern. Das Auswärtige Amt sieht bislang von Sicherheitshinweisen ab. Wohl auch, da sich die tätlichen Übergriffe über das gesamte Stadtgebiet erstrecken und sich daher keine bestimmten Stadtgebiete identifizieren lassen.
Sorge bereitet den Diplomaten eher die Terrorwarnstufe 4 von 5, die die britische Regierung nach den letzten Anschlägen in der Hauptstadt im Jahr 2017 ausgerufen hat.
Ansonsten klingen die Hinweise eher nach "business as usual": Verdächtige Taschen seien zu melden; vor allem an touristischen Plätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln drohe die Gefahr von Taschendiebstählen, aber teilweise auch von Gewaltdelikten.
Der Kampf gegen die Gewalt
Politiker und Sicherheitsbehörden stehen (dennoch) vor der grossen Aufgabe, Londons Strassen wieder sicherer zu machen. Als grosses Vorbild könnte dabei die jüngere Geschichte Glasgows dienen.
Zwischen 2004 und 2005 wurden in der schottischen Stadt 40 Menschen ermordet, landesweit waren es 137. Das bedeutete ein Zehn-Jahres-Hoch. Als Reaktion darauf wurde von der Glasgower Strathclyde Police die sogenannte "Violence Reduction Unit" (zu Deutsch: "Gewalt-Verminderungs-Einheit") ins Leben gerufen.
Deren Schwerpunkt lag allein in der Gewalt-Prävention. In Zusammenarbeit mit Schulen und Sozialarbeitern wurden Listen von potenziell gewaltbereiten oder Gang-affinen Jugendlichen erstellt, die dann aktiv zu Workshops oder Einzelgesprächen eingeladen wurden.
Ein Modell für London?
Die Botschaft war eindeutig. Einerseits: Wir helfen dir, wenn du willst. Andererseits: Wir haben dich ganz genau im Auge. Der Erfolg gibt dem Projekt bis heute Recht. Die Zahl an Morden sank in den folgenden zehn Jahren auf fast die Hälfte. Kein Wunder also, dass die Rufe nach einer "VRU" für Englands Hauptstadt immer lauter werden.
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