In Mexiko gelten 40.000 Menschen als vermisst. Viele von ihnen sind dem Drogenkrieg zum Opfer gefallen. Weil sie kaum auf Unterstützung der Behörden bauen können, machen sich Angehörige in Brigaden selbst auf die Suche nach den Leichen. Sie wollen wenigstens Gewissheit, wenn nicht für sich selbst, dann zumindest für andere Familien.

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Mit sanften Pinselstrichen werden die letzten grauen Erdreste von der Hinterseite des aus dem Boden ragenden Schädels gestrichen. Neben ihm ist ein Stück Seil sichtbar. Später legen die Forensiker einen Unterschenkelknochen und einen Schuh mit Gummisohle frei. Der Fund, der sich nach und nach in dem Erdloch offenbart, ist kein schöner - aber für die Menschen, die um das Grab stehen, bedeutet er einen Erfolg.

Sie sind Teilnehmer der 4. Nationalen Suchbrigade in Mexiko. Jeder von ihnen hat mindestens einen verschwundenen Angehörigen. Gemeinsam suchen sie nach verborgenen Gräbern und Gewissheit.

Während das Forensik-Team auf dem Hügel bei der Stadt Huitzuco im Bundesstaat Guerrero weitere Knochenteile freilegt, ruht sich Virginia Garay Cázares kurz von der Suche aus. Die Sonne brennt, sie trinkt einen Schluck Wasser. Ihr Gesicht wird von einem hellbraunen Hut geschützt auf dem seitlich ein Bild ihres Sohnes gemalt ist.

"Ich suche und suche"

"B. Eduardo" steht darunter. Der damals 19-Jährige ist seit Februar 2018 verschwunden. Er habe sich auf den Weg zur Arbeit in einem Burger-Restaurant gemacht, sagt Garay. Dort sei er nie angekommen. "Niemand weiss etwas, niemand hat etwas gesehen", sagt die 40-Jährige aus Tepic im Bundesstaat Nayarit. "Ich mache nichts anderes. Ich suche und suche."

In Mexiko sind nach jüngsten Angaben der Kommission zur Suche von Vermissten mehr als 40.000 Menschen im Register für Verschwundene eingetragen. Die meisten Vermisstenfälle gibt es demnach im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas an der Grenze zu den USA.

Die Zahl der verschwundenen Menschen ist in dem lateinamerikanischen Land seit 2006 stark gestiegen. Hintergrund sind häufig Kämpfe zwischen verfeindeten Drogenkartellen - oft genug verschwinden aber auch Unschuldige, darunter Kinder. Nach Angaben der Kommission sind die meisten als vermisst Gemeldeten junge Männer.

Die Ermittlungen in den Vermisstenfällen sind zäh. Auf grosse Unterstützung seitens der Polizei und dem Staat könnten sie dabei nicht hoffen, sagen die Angehörigen. Die Aufgabe offizieller Vermisstenanzeigen kann für die Familien sogar ein Risiko bedeuten. Deshalb haben sie sich zusammengeschlossen und suchen nach unentdeckten Gräbern.

Maria Herrera Magdalena vermisst vier Söhne

Zwei Wochen ist die Gruppe aus etwa 200 Teilnehmern aus allen Ecken des Landes dafür in Guerrero unterwegs. Bei vorherigen Suchen entdeckten sie im Bundesstaat Veracruz rund 4.000 Überreste, die Hinweise auf verschwundene Personen bringen könnten. Von Stoffresten bis zu Fingerknöcheln ist jeder kleine Fund wichtig. Im Bundesstaat Sinaloa entdeckten sie drei Todesopfer.

Wichtig dafür sei die Unterstützung der Bevölkerung, erklärt Maria Herrera Magdalena am Abend nach der Suche in der Unterkunft der Brigade. Die 69-Jährige hat vier vermisste Söhne, die Bilder ihrer Kinder trägt sie auf einem Anhänger an einer Kette um den Hals.

Die Gruppe bekomme Tipps, wo sich die Suche lohnen könnte. Mit Schaufeln und Spitzhacken laufen sie das Terrain ab, achten auf Hinweise auf mögliche verborgene Gräber. Wo sieht die Erde anders aus? Wo fühlt sich der Boden lockerer an? Wo wächst höheres Gras, weil der zersetzte Körper wie Dünger wirkt?

Werden sie fündig, wird die Generalstaatsanwaltschaft angerufen, die dann ein Forensik-Team schickt. Unter den Augen einer Kommission von Angehörigen legen die Experten die Leiche frei.

Grosses Misstrauen gegenüber dem Staat

Das Misstrauen in die Behörden und Rechtsstaatlichkeit ist gross. Ein Grund dafür liegt von Huitzuco etwa 30 Kilometer Fahrt entfernt: die Kleinstadt Iguala, die vor allem wegen des Verschwindens von 43 Lehramtsstudenten bekannt ist.

Das Schicksal der jungen Menschen hatte in Mexiko für Entsetzen gesorgt. Polizisten hatten die 43 Studenten der Universität Ayotzinapa in der Nacht zum 27. September 2014 in Iguala verschleppt und dem Verbrechersyndikat Guerreros Unidos übergeben. Offiziellen Ermittlungen zufolge wurden die jungen Männer getötet und verbrannt.

Unabhängige Untersuchungen zweifeln das allerdings an. Mexikos neuer Präsident Andrés Manuel López Obrador setzte im Dezember eine "Wahrheitskommission" zu dem Fall ein. Seit Anfang dieses Jahres arbeiten Angehörige und Experten an der Aufbereitung der Geschehnisse in Iguala. Es gebe Treffen mit Regierungsvertretern, sagt Herrera Magdalena, die nach dem Verschwinden ihrer vier Söhne eine treibende Kraft der Suchbrigade wurde. Und die Gruppe habe auch Unterstützung angefragt. Während der Suche werde sie von der Polizei bewacht. Denn nicht jeder freut sich über die Brigade und ihre Arbeit.

Erschossen und in Grube gestürzt

Mehr als staatliche Zuwendungen helfe jedoch der Zusammenhalt der Teilnehmer. "Wir teilen das gleiche Schicksal und verstehen uns", sagt die 69-Jährige.

Die an dem Tag gefundene Leiche wurde nach ersten Schätzungen der Forensiker bereits vor einigen Jahren vergraben. Aufgrund der Auffindesituation nehmen sie an, dass der Mann an der Grube erschossen wurde und dann vornüber in das Loch fiel.

Wenn es keine Vermisstenanzeige gibt, kann die Identität der Toten häufig nicht festgestellt werden, da kein DNA-Material zum Abgleich vorhanden ist. Nach Angaben der Kommission zur Suche von Vermissten existieren in Mexiko derzeit rund 36.000 Tote, die nicht identifiziert sind. Ob die Familie der gefundenen Leiche in Huitzuco jemals vom Tod des Angehörigen erfahren wird ist ungewiss. (mcf/dpa)

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