Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, steigt deutlich. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sind es etwa viermal so viele. Auch die Zahl derjenigen, die die gefährliche Überfahrt nicht überleben, ist dramatisch gestiegen. Wie erklärt sich die Dynamik? Hilfsorganisationen und Politik haben darauf unterschiedliche Antworten. Eine davon: Russland.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Zahlen alarmieren: Bereits über 600 Menschen (Stand: 17.4) sind in diesem Jahr bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken oder gelten als vermisst. Damit sind die Zahlen so hoch wie seit sechs Jahren nicht mehr. Im vergangenen Jahr waren es im ersten Quartal etwa halb so viele (334), 2017 von Januar bis März bereits über 700. Das zeigen Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM).

Mehr Panorama-News

"Die Zahl der Toten ist in der Tat besorgniserregend gestiegen", sagt auch Chris Melzer, Pressesprecher des UNHCR in Deutschland. Das Hilfswerk zählte bis Anfang April dieses Jahres knapp 39.500 Ankünfte über das Mittelmeer – etwa viermal so viel wie im Vorjahreszeitraum.

Italienische Küste ist Hotspot

"Wir haben es auf dem Mittelmeer mit sogenannter Mixed Migration zu tun. In den Booten sitzen sowohl Flüchtlinge – die also aus politischen Gründen ihr Land verlassen mussten und vor schweren Menschenrechtsverletzungen oder Krieg fliehen – als auch Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen, Armut, Hunger oder Naturkatastrophen ihr Land verlassen haben", erklärt Melzer

Die meisten Menschen landen an den Küsten von Italien (etwa 33.500) an, danach folgen Spanien (etwa 4.800) und Griechenland (etwa 3.900). Die Ankünfte über den Seeweg machen den Löwenanteil der Ankünfte an den EU-Grenzen insgesamt aus. Von über 42.000 Menschen, die in diesem Jahr an den EU-Grenzen angekommen sind, kamen weniger als 1.000 auf dem Landweg.

Besorgniserregende Zahlen

Doch es stellt sich die Frage: Warum steigen Ankünfte und Todeszahlen? Hilfsorganisationen haben darauf unterschiedliche Antworten. Die Zahlen würden sich wieder auf dem Niveau einpendeln, wie es vor Corona war, meint Melzer. "2020, 2021 waren die Zahlen eingebrochen, seitdem steigen sie wieder etwas. Von einer Situation wie vor acht Jahren sind wir aber weit entfernt", meint er.

Dennoch sei die Zahl der Toten besorgniserregend. "Deshalb fordern wir auch legale Zugangswege für Flüchtlinge, wie etwa die Härtefallaufnahme oder humanitäre Aufnahmeprogramme", ergänzt er.

Situation in Tunesien

Die Seenotrettungsorganisation "Seawatch" sieht weitere Gründe. Oliver Kulikowski teilt mit: "Zum einen ist die Zahl der Fluchtversuche immer auch vom Wetter abhängig, da sich die Menschen eine bessere Überlebenschance erhoffen, wenn das Meer vermeintlich ruhiger ist. In diesem Jahr hatten wir im Vergleich zu den Vorjahren bessere Wetterperioden zu Beginn des Jahres." Bei tagelangen Überfahrten und seeuntauglichen Booten sei dies aber leider oft ein Trugschluss, wie die Zahl der Todesopfer zeige.

"Der zweite Grund ist mit Sicherheit die Situation in Tunesien, wo nach einer rassistischen Kampagne der Regierung vor allem Menschen aus der Sub-Sahara Repression und Gewalt ausgesetzt sind, und sich die Menschenrechtslage weiter drastisch verschlechtert hat", so Kulikowski. Dies zwinge immer mehr Menschen zur Flucht.

Blockade von Seenotrettern

Die Nationalität der Ankommenden legt das ebenfalls nahe: Von den Menschen, die seit Januar 2021 über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, bilden Tunesier mit knapp 22 Prozent die grösste Gruppe. Es folgen Ägypter (19 Prozent), Bangladescher (15 Prozent), Syrer (10 Prozent) und Afghanen (8 Prozent). Die meisten Asylanträge in der EU werden laut offiziellen Daten von Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei gestellt.

"Dass dies hohe Todeszahlen zur Folge hat, liegt zum einen daran, dass EU-Staaten ihrer Pflicht zur Rettung nicht nachkommen, während zugleich zivile Rettungsorganisationen in ihrer Arbeit blockiert werden", meint der Seawatch-Sprecher und nennt das neue italienische Regierungsdekret.

Das im Dezember beschlossene Dekret schränkt die Arbeit von zivilen Rettungsschiffen massiv ein. So sieht es unter anderem vor, dass zivile Rettungsorganisationen nur noch eine Rettung pro Einsatz im Mittelmeer durchführen dürfen – und danach unmittelbar einen zugewiesenen Hafen anlaufen müssen. Andere offene Seenotfälle sollen ignoriert werden, andernfalls drohen hohe Geldstrafen von bis zu 50.000 Euro. Das Dekret ist Teil des verschärften Kurses der rechtsgerichteten Regierung unter Premierministerin Giorgia Meloni.

EU fährt Rettungsmassnahmen zurück

"Die Toten sind aber auch dem Fehlen eines staatlich organisierten Seenotrettungsprogramms zuzurechnen, und der Tatsache, dass Menschen kein anderer Ausweg zur Flucht bleibt, ausser der oft tödlichen Überfahrt, da ihnen sichere und legale Fluchtwege verwehrt werden", meint Seawatch-Sprecher Kulikowski.

Im Unterschied zu 2015 hätten staatliche Akteure die Zusammenarbeit mit zivilen Organisationen ausserdem nahezu eingestellt. "Gab es 2015 noch gemeinsame Rettungseinsätze und überwiegend gute Kooperation, hat sich das Bild dramatisch gewandelt", berichtet Kulikowski. So würden zivile Organisationen nicht mehr über Seenotfälle informiert und die Rettungsleitstellen verweigerten die Koordinierung von Seenotfällen. Die Überquerung des zentralen Mittelmeers gilt als die weltweit tödlichste Route für Migranten und Flüchtlinge.

Route verändert

Im gesamten Jahr 2015 registrierte das UNHCR über eine Million Ankünfte und zählte knapp 3.800 Tote und Vermisste. Die damals extrem hohe Zahl an Migranten und Flüchtlingen und die verhältnismässig niedrige Zahl von Toten und Vermissten erklärt sich laut Experten damit, dass damals die Allermeisten über die Türkei und die griechischen Inseln und anschliessend die Balkanroute nach Europa kamen.

"Dort spielte sich das hauptsächlich das Geschehen ab, bis der EU-Deal mit der Türkei diese Fluchtroute grösstenteils zum Erliegen gebracht hat", so ein Sprecher der UNO-Flüchtlingshilfe in Deutschland.

Länder schlagen Alarm

In Deutschland und Europa sind die derzeitigen Entwicklungen bereits spürbar: Erst kürzlich forderten die Länder "deutlich" mehr Geld vom Bund, um die Herausforderungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Migranten zu stemmen. Am 10. Mai soll ein Sondergipfel zwischen Bund und Ländern stattfinden.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hatte gefordert, freiwillige Aufnahmeprogramme zu stoppen, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) drängte auf mehr Abkommen mit anderen Staaten zur Rücknahme abgelehnter Asylbewerber. Im Gespräch sind ausserdem Finanzierungsmodelle, die sich an die veränderten Zahlen anpassen, und eine bessere Verteilung der Ankommenden.

Hybride Kriegsführung Russlands als Katalysator?

Zu den steigenden Zahlen der Flüchtlinge und Migranten kommt eine rückläufige Zahl an Abschiebungen in der EU und in Deutschland: Nach Angaben der EU-Kommission werden jährlich rund 340.000 Rückführungen beschlossen – 2022 wurden aber nur knapp 21 Prozent durchgeführt. Die Corona-Pandemie dürfte die Zahl zusätzlich gedrückt haben, von der EU-Zielvorgabe von 70 Prozent ist man dennoch weit entfernt.

Italien wies zuletzt auf eine weitere Dynamik hin: Die italienische Regierung, die den Ausnahmezustand verhängte, sieht einen Zusammenhang zwischen steigenden Migrantenzahlen und "hybrider Kriegsführung Russlands". Der Einfluss russischer Söldner in Afrika bewirke, dass sich eine wachsende Zahl von Migranten auf den Weg nach Europa mache. Laut Sicherheitsbehörden lassen Russland und Belarus ausserdem wieder mehr Flüchtlinge über ihre Länder nach Westeuropa.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.