- Bis zum Sommer 2021 ist Montenegro kein klassisches Auswanderungs-Ziel von Deutschen gewesen.
- Doch mit der Pandemie hat sich das schlagartig geändert.
- Recherchen zeigen, wie das südosteuropäische Land vor allem wegen eines Mannes zum Ziel deutscher Massnahmen- und Impfgegner wurde.
Glaubt man Joachim, dann muss er Schlimmes durchgemacht haben. Der Senior, schütteres Haar, blaues Polohemd, sitzt auf einer Terrasse oberhalb der Bucht von Bar, einer Kleinstadt in Montenegro. Im Hintergrund reckt sich das Rumija-Gebirge steil empor, als der Blick schwenkt, schimmert die nahe Adria in der Abendsonne. Joachim erzählt seine Geschichte. Nun ist er in Sicherheit.
"Wir haben gekämpft an vorderster Front", sagt er ernst in die Kamera. Er habe in Deutschland als kaufmännischer Direktor gearbeitet, seine Frau als OP-Schwester. Zusammen hätten sie viele Demos besucht. "Wir haben alles getan, um ein Umlenken der Regierung zu erreichen." Ihre wie die Proteste anderer Gegner der staatlichen Corona-Massnahmen und der Impfungen blieben aber erfolglos.
"Als die Drangsalierungen dann bei ihr [Joachims Frau, Anm. d. Red.] auch anfingen, dass sie jeden Tag sich testen lassen sollte, habe ich gesagt: 'Das machen wir nicht mehr mit!'" Joachim wollte in Deutschland keine Steuern mehr bezahlen und den "Zwangsimpfungen" entkommen, wie er bemerkt. Dann sei alles ganz schnell gegangen: Seine Frau und er hätten ihre Jobs gekündigt, innerhalb von drei Monaten ihr Haus in Deutschland ver- und ein neues in Montenegro gekauft.
Bekannte Gesichter der Querdenken-Szene
Das Ehepaar ist in dem südosteuropäischen Land nicht alleine. In den vergangen Monaten sind dorthin auffallend viele Deutsche gezogen, noch mehr überlegen das kurz- bis mittelfristig zu tun. Joachim hat seine Geschichte dem Partyschlager-Sänger Björn Winter alias "Björn Banane" geschildert. Der hat das Video bereits im vergangenen Oktober auf seinem Telegram-Kanal verbreitet. Winter zählt zu den bekanntesten Gesichtern der sogenannten Querdenken-Szene. Auch er ist im Herbst 2021 nach Montenegro gezogen, genauso wie sein Kompagnon Arne Schmitt. Der Pianist organisierte wie Winter bundesweit Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen.
Dass es so viele erbitterte Massnahmen- und Impfgegner nach Montenegro zieht, ist kein Zufall. Unsere Recherchen zeigen, welche Rolle dabei eine Schlüsselfigur der Querdenken-Szene spielt und welche Pläne die Corona-Flüchtlinge in dem 620.000-Einwohner-Land haben.
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Wie Montenegro zum Ziel für Massnahmen- und Impfgegner wurde
Unsere Redaktion hat seit Anfang des Jahres in mehreren Telegram-Gruppen mitgelesen, in denen sich Ausgewanderte und Auswanderungswillige vernetzen. Die Gruppen waren bis Mitte Februar öffentlich einsehbar und hatten zu dem Zeitpunkt mehrere hundert Mitglieder, die sich über Immobilienerwerb, gemeinsame Treffen, die Ein- und Ausreise oder die Gründung von Schulen austauschten. Dem Vernehmen nach leben die meisten der Nutzerinnen und Nutzer noch in Deutschland, wollen aber über kurz oder lang nach Montenegro, viele von ihnen berichten auch begeistert von ihren Kurzbesuchen in dem Balkanland.
Es gibt unseren Recherchen zufolge mehrere Dutzend Familien, die wie Joachim, Winter und Schmitt bereits Deutschland den Rücken gekehrt haben und auch wegen der vermeintlich laxeren Corona-Regeln nach Montenegro gezogen sind. Den örtlichen Medien ist der ungewöhnliche Zustrom im Winter bereits aufgefallen. So berichtete etwa Montenegros öffentlich rechtlicher TV-Sender RTCG über die Deutschen, die sich "während der Corona-Zeit in unserem Land freier fühlen".
So wie Sandra, die laut eigenen Aussagen mit ihren 11- und 14-jährigen Kindern in der Nähe von Mojkovac im Norden des Landes lebt. Da ist Bernd, der bereits seit sieben Monaten in Bar wohnt, weil der "Irrsinn Level" [alle Zitate im Original, Anm. d. Red.] in "Dunkelland" oder "Buntland", wie er Deutschland bezeichnet, bei zehn liege. Da ist eine Nutzerin mit dem Alias-Namen einer Blume, die ebenfalls in Bar lebt und die sich seit ihrem Umzug im vergangenen Oktober endlich frei fühle, weil ihre 14-jährige Tochter und ihr 17-jähriger Sohn "in Sicherheit" seien, "weil unter dem Radar". Und da ist die Familie von Viktoria, die mit ihrem 9 Jahre alten Sohn in Budva ebenfalls an der Adria ein neues Zuhause gefunden hat. Sie freut sich: "Hier gibt es auch eine kleine Community."
Die Redaktion hat zehn Ausgewanderte kontaktiert, niemand wollte mit uns über seine Beweggründe sprechen, auch nicht anonymisiert.
Boris Reitschuster – einer der Gurus der Querdenken-Bewegung
Dass es in den Auswandergruppen für Montenegro nur so von Massnahmengegnern wimmelt, liegt wohl vor allem an einem Mann: Boris Reitschuster.
Der langjährige Moskau-Korrespondent hat sich im Zuge der Coronakrise vom Journalisten zum Querdenken-Aktivisten gewandelt. Reitschuster ist einer der Gurus der Querdenken-Bewegung, er hat die wohl mit Abstand grösste Reichweite innerhalb der deutschsprachigen Corona-Massnahmen- und Impfgegner-Szene: über 125.000 Follower auf Twitter, fast 320.000 Abonnenten auf Telegram und – laut eigener Aussage – monatlich bis zu 50 Millionen Aufrufe seiner Webseite.
Anfang Juli 2021 veröffentlichte Reitschuster auf seinen Kanälen einen Reisebericht aus Montenegro. Der Titel: "Lebensfreude pur statt Corona-Panik". In dem gut dreizehneinhalb Minuten langem Video zeigt Reitschuster Aufnahmen aus seinem Urlaub in dem Balkanland. Der 50-Jährige schwärmt jedoch nicht nur von der malerischen Altstadt von Budvar, sondern immer wieder von der Situation vor Ort, von einem Land, "wo man den Eindruck hat, Corona gibt es hier so gut wie gar nicht".
Nahezu kein Hotelgast habe eine Maske getragen, erzählt Reitschuster. "Es wird zur Begrüssung überhaupt nicht auf Corona geachtet, die Menschen umarmen sich", bemerkt Reitschuster begeistert. Niemand halte sich an Corona-Regeln. "Ich kann mir sehr gut vorstellen, Montenegro zu meiner neuen Heimat zu machen."
Montenegro lockt mit niedrigen Steuern und preiswerten Immobilien
Tatsächlich hat Reitschuster wenig später seinen Sitz an die Adria verlegt: Statt auf eine Berliner Adresse verweist das Impressum seiner Webseite seit Herbst auf eine Anschrift in Herceg Novi. Offiziell habe er dies "wegen des Drucks in Deutschland, auch durch die Polizei" getan, schildert Reitschuster auf seiner Webseite.
Für zahlreiche Firmen aus der EU ist der ausschlaggebende Grund, ihren Unternehmenssitz nach Montenegro zu verlegen: niedrigere Steuern. Die Körperschafts- und die Einkommensteuer liegen nur bei jeweils 9 Prozent und damit deutlich niedriger als in Deutschland. Eine Gewerbesteuer gibt es gar nicht. Obendrein ist der Euro das offizielle Zahlungsmittel, was Banktransfers und die Buchhaltung erleichtert.
Auf Reitschusters Webseite empfiehlt eine Werbeanzeige "Bringen Sie Ihr Geld in Sicherheit aus der EU und kaufen Sie sich einen Platz im Paradies – Immobilien in Montenegro."
Für viele Auswanderer dürften die – zumindest im Vergleich zu Kroatien oder anderen Mittelmeerstaaten – geringeren Grundstücks- und Häuserpreise durchaus eine Rolle gespielt haben. Dazu kommt die Nähe: Anders als beim ebenfalls bei Impfgegner beliebten Paraguay ist die Hürde eines Umzugs nach Montenegro viel geringer. Mit dem eigenen Auto ist das Ziel an einem Tag zu erreichen, entspannt innerhalb von zwei.
Alles fing mit Reitschuster an
Reitschuster habe "den Stein ins Rollen gebracht", sagt auch Senad Dacić. Der Mann, der wie wenig andere vom gestiegenen Interesse an seinem Heimatland profitiert. Dacić ist Bauunternehmer. Er lebte und arbeitete 35 Jahre in Deutschland, ehe er 2018 zusammen mit seiner deutschen Ehefrau nach Montenegro zurückgekehrt ist.
Dort betreuen er, seine Frau und laut eigener Aussage 35 Mitarbeiter nun vor allem Kunden aus Deutschland. Sie verkaufen ihnen Grundstücke und fertige Häuser, vermitteln Architekten, unterstützen bei der Gründung von Firmen, beraten Auswanderungswillige und helfen auch bei Alltagsproblemen, gerade am Anfang.
Dacić ist dieser Tage ein viel beschäftigter Mann. "Ich bin gerade mit ein paar Deutschen auf dem Weg zur Ausländerbehörde", sagt er am Telefon. Der Geschäftsmann ist kurz angebunden, am Tag darauf hat er mehr Zeit.
Noch seien die Deutschen im Vergleich zu Russen, Arabern oder Türken in der Minderheit, erklärt Dacić beim zweiten Anruf. Doch in letzter Zeit hat er ein enorm gestiegenes Interesse aus Deutschland registriert. Pro Tag bekomme er etwa fünf Anfragen, 300 Deutsche betreue er aktuell, sagt Dacić. "Davon hat etwa ein Drittel schon Nägel mit Köpfen gemacht und ein Haus gekauft."
Dacić schätzt, dass derzeit, ausserhalb der Hochsaison im Sommer, 600 bis 700 Deutsche in Montenegro leben, ihm zufolge fast alle in der Küstenregion zwischen Budva und Ulcinj. Die, die Deutschland vor allem wegen der Corona-Massnahmen verlassen haben, seien davon aber nur eine kleine Minderheit, betont Dacić. Er selbst kenne etwa ein halbes Dutzend Familien, die deswegen "mit Frau, Kind und Hund hergekommen sind". Dacić macht im Gespräch klar, was er davon hält. "Wir können das hier nicht nachvollziehen. Wir sind hier Kriege gewohnt, die Corona-Pandemie überstehen wir auch."
In den Austauschgruppen gibt es ein ständig wiederkehrendes Thema: Corona-Massnahmen
Ein gänzliches anderes Bild zeigt sich hingegen in den Telegram-Gruppen, darunter auch in jenen, die Dacić und seine Frau für am Land Interessierte gegründet haben. In den Austausch-Foren, die unsere Redaktion über mehrere Wochen beobachtete, ploppte drei Themen immer wieder auf: Corona-Massnahmen, Maskentragen und Impfungen gegen SARS-CoV-2, sei es in Deutschland oder in Montenegro.
- So bekommt ein Nutzer viel Zuspruch für die Aussage, dass Ungeimpfte "plötzlich der Staatsfreind Nr. 1" seien.
- Eine andere Nutzerin lobt, dass es in der privaten internationalen Schule ihres 9-jährigen Sohnes keine Maskenpflicht gibt. "Keine Tests ebenfalls!", schreibt sie.
- Eine laut eigener Aussage verbeamtete Lehrerin, die noch nicht nach Montenegro ausgewandert ist, beglückwünscht gleichgesinnte Eltern, die das schon getan haben: "Ich finde es genial, wie mutig ihr seid und für eure Jungs und Mädels die Freiheit sucht. Wenn noch mehr Eltern aufstünden, wäre die Plandemie längst beendet."
- Eine andere Nutzerin, gehörte laut eigener Auskunft zur Lehrerschaft einer Querdenken-Schule in der Nähe von Rosenheim, die im September von den Behörden geschlossen wurde. Nun will sie zusammen mit anderen Familien einen Gemeinschaftshof aufbauen. Die Begründung: "Ich bin auf soziale Kontakte für meine Kids [...] angewiesen... Da die der Idee Deutschland zu verlassen nicht gerade mit Freudenschreien begegnen." Auch eine "holistische Schule" will die Frau mit Mitstreitern gründen, einen "Ort der ganzheitlichen Begegnung".
- Eine Nutzerin bemerkt schliesslich, dass es ihr beim Auswandern nach Montenegro um die Möglichkeit gehe, "soweit wie möglich autark zu leben, um unabhängiger von den Globalisten, die überall ihre Machtstrukturen aufgebaut haben, zu leben. Dazu sind eigenes Land, eine eigene Wasserquelle und ein Holzofen von grossem Vorteil."
Kehren die Deutschen nach der Pandemie zurück?
Dacić berichtet von weiteren Plänen aus der deutschen Gemeinschaft vor Ort. Es sei bereits ein deutsch-montenegrinischer "Verein für Kultur und Zusammenarbeit" gegründet worden, der ihm zufolge bereits 60 Mitglieder habe. Es gebe regelmässige Treffen, die Deutschen hätten zusammen Weihnachten und Silvester gefeiert. Dazu gebe es noch ein Businessforum, an dem er beteiligt ist.
Der Unternehmer glaubt, dass die meisten Deutschen nur vorübergehend nach Montenegro gezogen sind und zurückkehren, "wenn sich die Lage entspannt hat". Nachrichten in den Telegram-Gruppen deuten allerdings nicht daraufhin, dass die Nachfrage zurückgegangen ist, nachdem Bund und Länder am 16. Februar verkündet hatten, Mitte März die meisten Corona-Massnahmen auslaufen zu lassen.
Ob Joachim und seine Frau eine Rückkehr in die Bundesrepublik planen, wissen wir nicht. Allerdings war ihre Wahl auch deshalb auf Montenegro gefallen, weil es am Meer liegt. "Wegen unserer Gesundheit: Ich habe Asthma und meine Frau hat auch gesundheitlich Probleme."
Gerade in einer weltweiten Pandemie mit einem Virus, das gezielt Atemwege und die Lunge angreift, kein unerheblicher Faktor.
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